Jonas Jonassons Erfolgsroman:Auf einen Wodka mit Einsteins tumbem Bruder

Jonas Jonassons Roman über einen Hundertjährigen, der aus dem Altersheim flieht und auf paradoxe Art auf die Weltgeschichte zurückblickt, stürmt die Bestsellerlisten. Warum das Buch über einen bauernschlauen Pragmatiker, das zunächst von vielen Kritikern übersehen wurde, so erfolgreich ist.

Kristina Maidt-Zinke

Es ist merkwürdig und zugleich beruhigend, dass im Zeitalter gigantischer Datensammelei, mit der Konsumentenprofile ergründet und maßgeschneiderte Produkte an den restlos durchleuchteten Kunden gebracht werden, der literarische Bestseller sich nach wie vor nicht planen lässt. Immer wieder kommt es vor, dass Verleger und Lektoren sich in alle möglichen Körperteile beißen, weil sie mit der Ablehnung eines Manuskripts nichtsahnend ein Vermögen von der Schreibtischkante gewiesen haben. Der umgekehrte Fall, dass etwa ein Buch, das im Ursprungsland ein Renner war, hoffnungsvoll erworben wird und dann in der Übersetzung floppt, lässt sich zur Not mit kulturellen oder sonstigen Transferproblemen begründen.

Bestseller ´Der Hundertjährige" eine Million Mal verkauft

Der Bestseller "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" vrkaufte sich bereits eine Million Mal.

(Foto: dpa)

Wenn aber ein Spätdebütanten-Opus aus Schweden, das bei fünf von sechs Verlagen abgeblitzt war, weltweit zum Millionenseller aufsteigt, herrscht schwere Erklärungsnot: warum ausgerechnet der? Und könnte man vielleicht nach ähnlichem Rezept . . .? Es wird nicht funktionieren, so viel ist gewiss.

Für uns ignorante Feuilletonisten aber, die wir Jonas Jonassons Roman "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" beim Erscheinen der deutschen Version im vorigen Jahr einfach nicht zur Kenntnis genommen haben, bestätigt sich abermals, wie unwichtig wir für den Verkaufserfolg literarischer Erzeugnisse sind. Nun ist bei vielen Bestsellerlisten-Kandidaten ohnehin klar, dass sie nicht in die Zuständigkeit der professionellen Literaturkritik fallen und auch nicht mit entsprechender Intention verfertigt wurden.

Bei diesem Buch jedoch, das seit April unangefochten die Spiegel-Liste anführt und in der vorigen Woche, wie es so schön heißt, die Millionengrenze geknackt hat, ergibt die verspätete Lektüre, dass wir damals tatsächlich etwas übersehen haben - wie übrigens auch die schwedischen Kollegen zwei Jahre zuvor. Denn Jonassons ebenso haarsträubende wie lebensweise Geschichte eines Jahrhundertzeugen, der wider Willen in sämtliche wichtigen politischen Ereignisse verwickelt wird und es dennoch schafft, sich aus allem herauszuhalten, kann vielen gewissenhaft rezensierten Werken der Gegenwartsliteratur das Wasser reichen - oder besser: den Wodka.

Trinken und darüber reden

Denn wie man es bei einem so durch und durch schwedischen Epos erwarten darf, wird hier ordentlich getrunken und gern darüber geredet. Vor Leuten, die nicht trinken, solle er sich in Acht nehmen, hat der Romanheld Allan Karlsson von seinem Vater gelernt, der in Russland vom Sozialisten zum Zarenverehrer mutierte und bei der Verteidigung seines zehn Quadratmeter großen, zur "unabhängigen Republik" erklärten Privatgrundstücks von Lenins Soldaten erschossen wurde. Dieser Lebenslauf en miniature bildet das Prinzip der gesamten Erzählung ab: Ideologien werden als lächerliche Konstrukte entlarvt, und die Tragik des kleinen Mannes wird mit der Komik des weltpolitischen Geschehens verflochten. Als Lebensmotto taugt, wie sich herausstellt, einzig der Satz, den Allans Mutter sprach, als sie vom Tod ihres Gatten erfuhr: "Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt." Das heißt freilich nicht, dass das, was ist und was kommt, keinen Spaß machen darf.

So beginnt der Roman denn auch eher harmlos mit dem beliebten Motiv des Greises, der gegen die Spaßbremsen der Seniorenbetreuung rebelliert. Eine Stunde vor der offiziell anberaumten Feier seines hundertsten Geburtstags büxt Allan Karlsson aus dem Altersheim von Malmköping aus und macht sich auf den Weg zum Busbahnhof - in der schwedischen Provinz das Tor zur weiten Welt. Dort soll er auf den Koffer eines wenig sympathischen jungen Mannes aufpassen und steigt, weil er dringend die Kleidung wechseln möchte, kurz entschlossen mit dem fremden Gepäck in den Bus, der nach "Byringe Bahnhof" fährt. Im Koffer befinden sich 50 Millionen Kronen aus Drogengeschäften.

Wiederbegegnung mit Kindheitsidolen

Es folgt eine Mischung aus Krimikomödie, Schelmenstück und Roadmovie, die nur die Rahmenhandlung bildet, aber für sich schon kurzweilig genug wäre. Zwar ist das Schema bekannt - Polizei und Gangster jagen einen einerseits naiven, andererseits listenreichen Zufallsräuber -, doch Jonas Jonasson hat seinen hochbetagten Helden und die Figuren, die er auf seiner Flucht um sich schart, so reich mit allen Eigenarten ausgestattet, die wir seit Pippi Langstrumpf und Kalle Blomquist an den Schweden lieben, dass man einen Großteil des Publikumserfolgs wohl dieser indirekten Wiederbegegnung mit Kindheitsidolen und -idyllen zuschreiben darf.

Bestseller ´Der Hundertjährige" eine Million Mal verkauft

Autor Jonas Jonasson

(Foto: dpa)

Es fügt sich nämlich, dass der hundertjährige Allan Karlsson mit dem siebzigjährigen Gelegenheitsdieb Julius Jonsson, dem ewigen Studenten Benny Ljungberg, der schönen, rothaarigen Schimpfwortvirtuosin Gunilla Björklund und deren Haustieren, der Elefantenkuh Sonja und dem Schäferhund Buster, eine Wohngemeinschaft bildet, und zwar in einem roten Holzhäuschen mit weißen Fensterrahmen an einem See im småländischen Fichtenwald. Später stoßen zu der Truppe noch Bennys Bruder, der ehemals gaunerhafte, inzwischen religiös gewordene Lebensmittelgroßhändler Bosse Ljungberg, sowie zwei der Verfolger, der Ex-Ganove Piranha und der einsame Kriminalkommissar Aronsson. Alle vertragen sich prächtig, profitieren gemeinsam von den Millionen im Koffer und brechen am Ende zu einem neuen Leben in wärmeren Zonen auf.

Leichen werden auf komisch-makabre Weise beseitigt, Konflikte so schlitzohrig wie friedfertig ausgetragen, die Dialoge funkeln von abgeklärtem Zynismus und phlegmatischer Lakonie, und zuweilen fühlt man sich von fern an Detlev Bucks Film Wir können auch anders erinnert. Obendrein springt bei allem noch eine treffsichere schwedische Gesellschaftssatire heraus, die kriminelle Karrieren, begriffsstutzige Polizisten, rechtsradikale Pöbler und einiges andere aufs Korn nimmt.

Verstrickt in die Weltpolitik à la Forrest Gump

Die eigentliche Story indes, in Rückblicken eingeschoben, ist noch viel kühner und im wahrsten Sinne durchgeknallt. Es ist die Lebensgeschichte des 1905 geborenen Allan Karlsson, der als Neunjähriger von der Schule abgeht, um in einer Nitroglyzerinfabrik zu arbeiten, fleißig mit Sprengstoff experimentiert und seine eigene Firma Dynamit-Karlsson gründet. Eingesperrt wegen eines Sprengunfalls mit tödlichen Folgen, zwangssterilisiert von einem wahnsinnigen Rassenbiologen (die gab es in Schweden offenbar schon vor 1929), schließlich als Sprengstofftechniker in einer Kanonengießerei untergekommen, lässt er sich von einem Kollegen aus Madrid zum Gastspiel im Spanischen Bürgerkrieg überreden, wo er dem leibhaftigen General Franco begegnet.

Das ist der Beginn seiner nicht mehr abreißenden Verstrickung in die Weltpolitik nach dem Modell von Forrest Gump, nur dass er, anders als letzterer, nicht bloß als reiner Tor zwischen die Protagonisten gerät, sondern, nachdem man auf seine sprengtechnischen Kompetenzen aufmerksam geworden ist, von den Mächtigen verschiedener ideologischer Lager gesucht und weitergereicht wird, schließlich sogar als Atomexperte.

Deshalb, und weil Allan Karlsson eben kein reiner Tor ist, sondern eher ein bauernschlauer Pragmatiker, ist hier die ironische Brechung des welthistorischen Parcours viel ausgeprägter. Beim Ersinnen abstruser Konstellationen und Konfrontationen hat Jonas Jonasson überschäumende Phantasie entwickelt, und Figuren wie Herbert Einstein, der tumbe Bruder des großen Albert, werden dem Roman einen Hauch Unsterblichkeit sichern. Außerdem wird hier immer wieder mit einfachsten Mitteln der Irrsinn des Krieges aus der Perspektive der kleinen Leute beleuchtet, und insofern ist der "Hundertjährige" auch eine Art Simplicissimus light, auf den zutrifft, was Joseph von Eichendorff über Grimmelshausens Simplicius sagte: ". . . und es ist eine Lust zuzusehen, wie er diese bestialische Welt humoristisch bewältigt."

Hätten wir das Buch beizeiten rezensiert, hätten wir ihm ein paar Längen angekreidet. Jetzt, nach dem Riesenerfolg, sehen wir das anders: wie schön, dass es noch so viele entspannte, geduldige Leser gibt.

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