Tatort Kiel "Borowski und der stille Gast":Haben Sie ihr Hirn gesehen?

Er schleicht sich in Wohnungen, schnüffelt an Schuhen, leckt am Brot: Dem Frauenmörder im ausgezeichneten Kieler Tatort beim Atmen zuzusehen ist eindrucksvoller, als der gesamten Belegschaft mittelmäßiger Tatorte beim Reden zuzuhören. Und Sibel Kekilli als Kommissarin kann ihre Epilepsie nicht länger geheimhalten.

Holger Gertz

Ziemlich am Anfang liegt eine Frau am Boden, die Ermittler tragen ihre sackartigen Spurensicherungsanzüge, sie beugen sich über die zerhackte Leiche, und Sarah Brandt fragt ihren Kollegen Borowski: "Haben Sie ihr Gehirn gesehen?" Da brummt Borowski: "Ja, das hab' ich."

Wenn der Postmann einen Nachschluessel hat

Axel Milberg als Hauptkommissar Klaus Borowski und Sibel Kekilli als Sarah Brandt in dem Tatort "Borowski und der stille Gast".

(Foto: NDR)

Ein kurzer Dialog nur, wie nebenbei gesprochen, aber in diesem Tatort aus Kiel geschieht nichts einfach so, jedes Wort im hervorragenden Drehbuch hat einen hinreichenden Grund für seine Existenz. Dem anderen ins Gehirn sehen zu können ist jedermanns Sehnsucht, umgekehrt ist es jedermanns Furcht, dass ein anderer imstande wäre, ihm selbst ins Gehirn zu sehen und noch weiter hinab, bis runter zur Seele.

Das Buch stammt von Sascha Arango, es ist sein vierter Borowski, und auch diesmal verplempert er die Zeit nicht mit der Aufforderung zu altdeutscher Rätselei und der albernen Frage: Wer ist denn nun der Mörder? Bei Arango kennen ihn die Zuschauer bald, sie wissen mehr als die Ermittler, sie haben freien Blick auf Hirne, auf Seelen und auf Seelenfragen: Was macht die Tat mit dem Täter? Was macht die Tat mit denen, die den Täter zu fassen versuchen?

Dieser Täter schleicht sich erst in die Wohnungen und dann in die Leben von Frauen. Er schaut mit dem Zahnarztspiegel durch den Türspalt, öffnet Briefe über Wasserdampf, sortiert seine CDs ins fremde Regal, putzt seine Zähne mit fremder Bürste, leckt am fremden Brot, schnüffelt am fremden Turnschuh, atmet die Luft im fremden Raum. Dem Schauspieler Lars Eidinger beim Atmen zuzusehen ist eindrucksvoller, als der gesamten Belegschaft mittelmäßiger Tatorte beim Reden zuzuhören.

Der Mann, den Eidinger spielt, schiebt sich unter die Haut seiner Opfer, beißt sich in ihnen fest wie ein Parasit im Fleisch des Wirtstiers. Er sorgt sich um diese Frauen, er lebt mit ihnen, ohne dass sie es wissen. Sie ahnen es nur. Die Morde, die der Mann begeht, sind Beziehungstaten eines Beziehungsgestörten, denn sie beenden Beziehungen, die nur er als Beziehungen empfindet.

Sascha Arango und Regisseur Christian Alvart philosophieren über eine Urangst: Was bleibt von einem Menschen, der seiner Geheimnisse beraubt ist? "Alle kommen zu mir. Was wollen alle von mir?", fragt der um seine Rückzugsräume besorgte Borowski (Axel Milberg). Sarah Brandt (Sibel Kekilli) kann ihre Epilepsie nicht länger geheimhalten, Borowski muss sich entscheiden, ob er sie deckt, denn eine Epileptikerin kann keine Polizistin sein. "Epileptiker leben nicht lange", sagt im Film ein Arzt. Aber Arango wird wissen, was so ein Satz bei den Betroffenen im Publikum auslösen kann, er selbst ist Epileptiker.

Vieles im Leben spielt sich in aller Stille ab, im Vagen, davon erzählt dieser sehr gute Tatort, der laut und lärmend nur wird, wenn die Zeit reif ist. Für Borowskis Auto ist die Zeit reif. Also wird es erschossen.

ARD, Sonntag, 20.15 Uhr.

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