Reisebuch "Slow Travel":Warum schnell, wenn es noch langsamer geht

Erste britische Dörfer übernehmen rote Telefonzellen; Telefonzelle England

Traditionelle britische Telefonzelle an einer Landstraße nahe der Ortschaft Tanrallt in Wales.

(Foto: picture-alliance/dpa)

Der Brite Dan Kieran erzählt, wie er gemeinsam mit Freunden in einem Milchwagen England durchquert. Einem elektrischen Milchwagen, der manchmal langsamer fährt, als eine Hummel fliegt - das schönste Reisebuch des Jahres.

Von Alex Rühle

Die Hummel ist sowas wie der Braunbär unter den Insekten, pelzig, brummelnd und gemütlich. Honig ja, aber nur, wenn's nicht zuviel Mühe macht. Will schon was heißen, wenn man auf einer motorisierten Reise von solch einem ja eher durch die Luft torkelnden als entschlossen auf ein Ziel zufliegenden Tier überholt wird: "Gegen Ende der ersten Woche begannen wir langsam daran zu glauben, dass unser Trip gelingen könnte, und entspannten uns. In diesem Moment veränderte sich unsere Wahrnehmung. Der Elektromotor war so leise, dass er die Wildtiere nicht verscheuchte, und wir gewöhnten uns daran, auf kleinen Feldwegen von Hasen, Kaninchen und Vögeln begleitet zu werden. Einmal fuhren wir einen Hügel hinauf und wurden von einer Hummel überholt."

Wir, das sind der Brite Dan Kieran und zwei seiner Freunde, und ihr Gefährt ist ein batteriebetriebener Milchwagen aus den vierziger Jahren, Fahrradtacho, 25 Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit, keine Sicherheitsgurte und Türen, durch die der Regen rinnt.

Der Plan lautet, England einmal von Ost nach West zu durchqueren, 965 Kilometer von Küste zu Küste, mit eben diesem Gefährt, bei dem erschwerend hinzukommt, dass man die Batterie nur per Starkstromkabel über Nacht aufladen kann, was bedeutet, das sie bei normalen Leuten klingeln und fragen müssen, ob sie vielleicht mal der Herdanschluss benutzen dürfen.

All das klingt strapaziös, kompliziert, entbehrungsreich. War es auch. Aber erstens geht es genau darum. Und zweitens erzählt Kieran in seinem Buch "Slow Travel" so lustvoll, witzig, reich von dieser Reise, dass man beim Lesen überlegt, wo man denn so kurz vor den Sommerferien noch einen Milchwagen herbekommen könnte.

Sommerferien. In drei Wochen geht's in Bayern wieder los. Alle begeben sich gleichzeitig auf den Geschwindigkeitstunnel namens Autobahn, dieses graue Betonfließband, das einen doch nur in den nächsten Stau rollt. Und das sich auf jeder ADAC-Karte in solch anmaßend dickem Gelb-Rot durch die Landschaft zieht, dass man meinen könnte, die Welt drumrum wär nur Staffage für die Autofahrer, die der Familie erklären, so, jetzt 18 Stunden nonstop, per austriam ad astra, aber dann knallen wir uns an den Strand und amorpheln zwei Wochen lang hemmungslos vor uns hin.

Nicht so Dan Kieran. Der Brite hat es sich zur Aufgabe gemacht, langsam durchs Leben zu reisen. Nun ist die Beschleunigung eines der Modethemen unserer Tage. Alle sind von dem diffusen Gefühl geplagt, nicht mehr hinterherzukommen, zuviel zu machen, das Leben als schiefe Ebene, auf der man immer schneller in Richtung Zukunft stolpert.

Dementsprechend verstopfen so handliche wie verlogene Entschleunigungsratgeber die Buchhandlungsregale. Jedem Buchhändler aber, der Kierans wunderschöne Textsammlung bei diesem Ratgeberramsch einsortiert, wünschen wir acht Stunden Brennerstau an den Hals.

Dan Kieran reitet nämlich nicht irgendeine Diskurswelle ab (was ja auch deshalb nicht geht, weil er mit seinem so rostigen wie schwerfälligen Milchwagen in der erstbesten Welle ersaufen würde), das langsame Reisen ist sein Lebensthema: Zusammen mit Tom Hodgkinson gab er zehn Jahre lang das schon im Titel programmatische Magazin "The Idler" heraus, was man vielleicht als "Der kultivierte Faulenzer" übersetzen könnte (und das, getreu dem Titel, auch nur einmal jährlich erscheint).

Zum Reiseschriftsteller wurde Kieran, nachdem ihn ein Freund zu seiner Hochzeit nach Warschau eingeladen hatte. Da er unter Flugangst leidet, nahm Kieran, anders als all die anderen Gäste, nicht den Flieger, sondern schlug sich mit Zügen durch: Nordfrankreich, Belgien, Ruhrgebiet, Polen.

Als er in einer Warschauer Bar seine Freunde wiedertrifft, "unterhielten die sich über dieselben Dinge, über die wir auch zu Hause reden, Musik, Politik, alte Freunde. Es gab kein Anzeichen dafür, dass sie von anderen Gedanken oder Vorstellungen beeinflusst worden waren."

Pläne durchkreuzt? Wunderbar!

So wird der eigentliche Anlass der Reise, die Hochzeit, in seinem Text über diesen bizarren Ausflug denn auch in nur zwei Absätzen abgehandelt, wichtig ist der Weg ins Offene, die Reise dorthin und wieder zurück: "Am nächsten Tag setzen mich meine Freunde am Bahnhof ab. Eine Stunde später unterhielt ich mich in meinem Abteil mit einem russischen Soldaten; wie sich herausstellte, hatte er seinen Posten verlassen und war auf der Flucht. Während ich mit ihm sprach, stellte ich mir vor, wie sich meine Freunde in 10.700 Meter Höhe Wiederholungen amerikanischer TV-Shows ansahen, und ich wusste, dass ich nie wieder auf diese Weise reisen würde."

Ob er nun von seiner Milchwagentrödelei erzählt oder vom Hochzeitsausflug, von den Spaziergängen mit seiner Tochter oder von den ausgedehnten Reisen als Teenager mit seiner Großmutter (ja, Kieran ist slightly sonderbar, aber was wollen Sie, der Mann ist Brite) - alles ist ihm im Grunde nur unterhaltsamer Anlass, eine Philosophie des Reisens zu entwickeln, oder sagen wir eine Ästhetik des Reisens, die mit wenigen Regeln auskommt: Keine Reiseführer. Keine Fotos. Mach einen Bogen um die Sehenswürdigkeiten und um alle teuren Hotels und vor allem: Freu Dich, wenn Deine Pläne durchkreuzt werden.

Es gibt für Kieran einen fundamentalen Unterschied zwischen Reisen und Urlaubmachen. Urlaub macht man, wenn man einfach seine Ruhe haben will, Strand, Bier, und ein Tag Kultur mit Kolosseum. So aber ist der Urlaub oftmals nur das Pendant zur gehetzten Zeit, komprimierte Entspannung, Powerjoy, making the most of it.

Dan Kieran geht es bei seinen Reisen eher darum, sich einen halben Meter neben den gewöhnlichen Alltag zu stellen und dadurch einen neuen Blick auf das Leben zu bekommen. Ein Spaziergang von der eigenen Haustür weg, bei dem man sich ordentlich verläuft, hat mehr mit seiner Art zu reisen zu tun als vier Wochen Malediven.

Es geht nicht um escape, sondern um inscape, wie Kieran im englischen Original schreibt, also darum zu sich selbst zu kommen. Könnte nach Zen-Kitsch klingen, aber da ist Kierans britischer Humor davor: Auf die Idee zu seiner Milchwagentour kam er in einem Pub, als einer seiner Freunde in Anspielung an den bekannten Film den Kalauer "Three men in a float" in den Raum warf.

Wer vier Wochen einem Kalauer hinterherreist, eignet sich wahrscheinlich nicht zum Zen-Meister. Aber das schönste Reisebuch dieses Jahres hat er trotzdem geschrieben.

Dan Kieran: Slow Travel. Die Kunst des Reisens. Aus dem Englischen von Yamin von Rauch. Rogner & Bernhard, Berlin 2013. 223 Seiten, 19,95 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: