Kolumne "Familie und andere Turbulenzen":Mach mal eine Pause

Familien-Kolumne

Das Leben mit Kindern ist ganz schön, aber anstrengend.

(Foto: Stephanie Wunderlich)

Dürfen Eltern auch mal genug haben von ihren Kindern? Sich gar eine kleine Auszeit gönnen? Oder ist das nicht nur politisch unkorrekt, sondern wider die Natur?

Von Katja Schnitzler

Eltern haben sich um ihre Kinder zu kümmern, rund um die Uhr, ohne Unterlass. Und das auch noch gerne - schließlich liegt das in ihrer Natur! Davon war die junge Frau überzeugt, als sie noch kein Kind geboren hatte. Leider merkte sie bald darauf: Das genetische Programm der Natur wies bei ihr die ein oder andere Lücke auf.

Die ersten Wochen und Monate genoss die Mutter die Zeit mit ihrem Kind, jedenfalls meistens. Außer, die Tage wurden lang und langweilig: Weil das Baby zu viel schlief, aber nur auf endlosen Spaziergängen - oder weil es zu wenig schlief, obwohl es müde war, und die Mutter daher wieder zu nichts kam. Auch ihre Freunde hatten nicht alle untertags Zeit für ein wenig Abwechslung. Die junge Mutter haderte: Wieso ging sie nicht glückshormonberauscht in ihrer neuen Rolle auf?

Wiegenlieder der Verzweiflung

Etwa wie ihre Nachbarin, die ausführlich von kilometerlangen Spaziergängen mit schreiendem Kind durch die nächtliche Wohnung berichtete. "Und der Vater?", fragte die Mutter. "Der muss doch am nächsten Tag arbeiten, den wollte ich nicht wecken", gab sich die andere selbstaufopferungsvoll. Die Mutter wunderte sich, dass die Nachbarin anscheinend der Meinung war, dass außer ihr niemand, NIEMAND, das schreiende Baby beruhigen konnte. Offenbar hatte sie ja die halbe Nacht dafür benötigt.

Nach einem sehr langen Tag mit einem zahnenden Baby, an dem die Mutter erst gegen 15 Uhr endlich duschen konnte, dachte die Mutter eines Nachts an ihre Nachbarin, während sie aus ihrem Bett kroch und ins Kinderzimmer taumelte. Fünf Minuten, eine Viertelstunde, eine Dreiviertelstunde tröstete, beruhigte, schaukelte sie ihr Baby. In ihrer Verzweiflung sang sie sogar Wiegenlieder vor. Dabei hatte ihr einst der Musiklehrer bescheinigt, als erste Schülerin wirklich jeden Ton nicht getroffen zu haben. Ihr Kind hatte eindeutig mehr musikalisches Gespür, jedenfalls schrie es noch lauter.

Nach einer knappen Stunde riss sie den Vater aus dem Schlaf und drückte ihm das Baby in den Arm. Es ging einfach nicht mehr. Sie brauchte eine Pause, vom Schreien und vom Kind. Und der Vater konnte wenigstens singen.

Sie zog sich das Kissen über die Ohren, doch weder Babylärm noch schlechtes Gewissen ließen sich davon abhalten. War sie eine schlechte Mutter? Wo blieb ihr Mutterinstinkt? Das war doch unnatürlich, oder?

Nach einer halben Stunde intensivem Zwiegespräch mit ihrem Gewissen war sie unter dem Kissen hervorgekrochen und hatte das hochrote, plärrende Baby übernommen. Am nächsten Tag, das Kind schlief ausnahmsweise, sank die Mutter erschöpft auf die Couch.

Vorbild Amsel

Später wollte sie ihre Schwester anrufen und Buße tun. Denn früher hatte sie auf ihre Schwester mit den zwei Kindern stets ein wenig herabgeblickt: Weil sich die Schwester länger als nötig auf der Toilette einschloss, um ein paar Minuten nur für sich zu haben. Und weil die Schwester ihre Kinder zwar vermisste, als sie wieder zur Arbeit ging. Aber es genossen hatte, endlich wieder konzentriert etwas zu Ende bringen zu können, ohne dabei ständig unterbrochen zu werden. Verglichen mit den Alle-zehn-Sekunden-Bedürfnissen von Kleinkindern fielen die paar Mail- und Telefonstörungen kaum ins Gewicht.

Heute verstand die Mutter die Sehnsucht nach den kleinen Fluchten besser, als ihr lieb war: Sie haderte immer noch mit ihrem Gewissen. War dieses Bedürfnis ein Zeichen des Egoismus in einer modernen Welt, in der jeder die Erfüllung seiner eigenen Sehnsüchte über alles andere stellte? Und sich dabei immer weiter von der Natur des Menschen als Wesen der Gemeinschaft entfernte? Die Mutter rieb sich die Stirn, sie hatte eindeutig zu wenig Schlaf bekommen in letzter Zeit.

Sie blickte aus dem Fenster. Auf dem Baum vor dem Haus hatten Amseleltern ein Nest gebaut und schon die Eier unter Einsatz ihres Lebens behütet. Nun, da die Jungen geschlüpft waren, schaffte das Amselpaar Wurm um Wurm heran, von frühmorgens bis zum letzten Tageslicht. Sobald sie am Nestrand landeten, rissen die Küken fiepend die Schnäbel auf.

Doch dieses Mal war das Weibchen auf dem Ast unter dem Nest gelandet, unbemerkt von den Küken. In ihrem Schnabel ringelte sich ein Regenwurm. Das völlig erschöpfte Weibchen nutzte die Auszeit für ein fünfminütiges Nickerchen. Erst dann stopfte sie die hungrigen Schnäbel.

Nachdenklich ließ sich die Mutter auf der Couch zurücksinken, während im Nebenzimmer ihr Baby unruhig wurde und bald erwachen würde. Im Geist sah sie sich wie die Amselmutter in einem Versteck kauern - vielleicht hinter dem Sofa, groß genug war es -, bevor ihr Baby sie entdeckte. Leider wartete es nicht wie die Vogeljungen auf den Anblick der Eltern, bis es sich bemerkbar machte.

Da klingelte das Telefon, ihre Schwester war dran: Die Mutter habe in letzter Zeit so komisch geklungen, ständig von Natur und Instinkt gesprochen, mit dem die Eltern von heute nicht mehr im Einklang wären. Auf jeden Fall wollte die Schwester der Mutter einen kleinen Handel anbieten: Jede könne doch einmal in der Woche den Nachwuchs der anderen übernehmen?

Nur für ein paar Stunden Auszeit, um wieder Kraft zu schöpfen. Ganz natürlich.

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