Historie:Seelenverkäufer

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Zehntausende Flüchtlinge warten vor der Festung Europa. Sie hoffen auf Sicherheit oder ein besseres Leben. In der EU ist weithin vergessen, dass einst auch Millionen Europäer flüchteten - und Aufnahme fanden.

Von Ronen Steinke

Usoni" heißt eine neue TV-Serie in Kenia, die von einem Science-Fiction-Szenario handelt. Im Jahr 2063 ist Europa unbewohnbar, ökologisch verheert. Also machen sich die Europäer auf, massenhaft in den Süden zu flüchten. Nach Afrika. Das Nadelöhr dorthin ist die Mittelmeerinsel Lampedusa.

In der Pilot-Episode der Serie, die kürzlich in Nairobi von der Regisseurin Cherie Lindiwe vorgeführt wurde, sieht man leicht wackelige Bilder, es ist eine Low-Budget-Produktion: Dunkle Wellen peitschen ein auf die kleine Nussschale, mit der ein europäisches junges Pärchen die Insel zu erreichen versucht. Salzwasser klatscht auf das Deck, das Paar umklammert sich inmitten der verängstigt zusammengedrängten Mitfahrer. Hinter ihnen liegt nur Dunkelheit, denn vor einigen Jahren sind sämtliche Vulkane Europas auf einmal erwacht, der Ätna, der Eyjafjallajökull und noch einige mehr. Sie haben dicke schwarze Schwaden aus Asche in die Atmosphäre gespuckt, und unter dem Wolkendeckel hat sich Elend zusammengebraut.

"Was war ich denn in Deutschland? Ein armer Schlucker."

Die Weißen bekommen es auf ihrer Flucht über das Mittelmeer, das sie in besseren Zeiten einst hochmütig "mare nostrum" ("Unser Meer") genannt hatten, mit ruchlosen Schlepperbanden zu tun, mit der Küstenwache, mit den Wellen. Aber trotzdem: "Europa ist tot, hier gibt es nichts mehr", sagt der Hauptdarsteller Ulysse (gespielt von dem Deutschen Felix Vollmann) seiner schwangeren Freundin Ophelia. "Afrika ist der einzige Ort, an den wir fliehen können, um uns etwas aufzubauen." Die Grenzbeamten auf Lampedusa gucken grimmig.

Es ist ein reizvolles Gedankenexperiment, ein Vertauschen der Rollen, und ein bisschen ist es vielleicht auch eine afrikanische Rachephantasie: "Usoni" heißt Zukunft auf Suaheli. Als die europäischen Flüchtlinge es endlich nach Afrika schaffen, bekommen sie es mit schikanösen Ausländerbehörden zu tun und mit dem unterschwelligen Rassismus der wohlhabenden Einwohner.

Aber "Usoni" beschreibt auch etwas, das gar nicht fern der Realität liegt. Man muss dazu nicht ins Jahr 2063 schauen. Gewiss, heute sind es Flüchtlinge aus Afrika, die vor einer europäischen Festung stehen, während die EU die Zugbrücken hochzieht und erst seit Neuestem auch ein paar Rettungsringe ins Wasser wirft (Italiens Regierung betreibt seit Anfang des Jahres eine Aktion zur Rettung Schiffbrüchiger mit dem Namen "Mare Nostrum"). Doch früher waren es die Europäer selbst, die Zuflucht suchten. Jahrhundertelang kamen sie nicht nur als Eroberer in ferne Länder, sondern viel öfter in Lumpen.

Wenn heute der italienische Innenminister Angelino Alfano die Bedrohung verdeutlichen will, die afrikanische Flüchtlinge für die EU bedeuteten, dann nennt er gerne eine dramatische Zahl. 62 000 Afrikaner haben im Rekordjahr 2011 nach Europa übergesetzt - und im Jahr 2014, so warnt Alfano, könne dieser Rekord noch übertroffen werden. Das hat jetzt auch Frontex erklärt, die Grenzschutzagentur der EU-Staaten: Schon 26 000 Menschen seien in diesem ersten Quartal über das Mittelmeer gekommen. Neun Mal so viele wie im Vorjahreszeitraum.

Aber viel größer und beeindruckender ist eine andere Zahl. Der Flüchtlingsstrom, der einst aus Europa kam, bestand aus durchschnittlich einer halben Million Menschen - pro Jahr. Und dies ein ganzes Jahrhundert lang, zwischen 1824 und 1924. Insgesamt waren es 52 Millionen Europäer, die in diesem Zeitraum ihre Heimat verließen. Allein aus Deutschland kamen 1882 eine Viertelmillion Migranten. Im Vergleich dazu geht es auf dem Mittelmeer heute fast ruhig zu.

Give me your tired, your poor,/ Your huddled masses yearning to breathe free.

So steht es auf einer Bronzetafel auf dem Sockel der Freiheitsstatue im Hafen von New York. Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure kauernden Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen: Gedichtet hat das Emma Lazarus, selbst Tochter jüdischer Einwanderer. Gemeint sind unter anderem die Iren, die im 19. Jahrhundert vor der Kartoffelfäule flohen, die eine Million Menschen hatte verhungern lassen - vier Mal so viele wie bei der Hungersnot 2011 in Somalia -, oder jene Deutschen, die schon im 19. Jahrhundert und erst recht zu Beginn des 20., auf der falschen Seite der Gesellschaft lebten; oben die glänzenden Goldknöpfe der Offiziere, unten die immer tiefere Depression der Massen. Vor allem in den Jahren nach der Reichsgründung 1871 litten Hunderttausende Deutsche an Hunger und an den Folgen der Arbeitslosigkeit, zwischen 1820 und 1890 bildeten sie sogar die größte Gruppe unter den Neuankömmlingen in den USA.

An alten Wirtshäusern finden sich manchmal noch heute Gedenktafeln an die Auswanderer von damals. Nur war der Unterschied zu heute: Ihr Lampedusa hieß Ellis Island. "Huddled masses", Wirtschaftsflüchtlinge: Sie waren willkommen. In Lateinamerika, wohin es immerhin 20 Prozent der europäischen Auswanderer zog, aber vor allem in den USA. (In dem berühmten Gedicht von Emma Lazarus heißt die Statue auch nicht Lady Liberty, sondern Mother of Exiles.)

Am eindrucksvollsten sind vielleicht die persönlichen Briefe, die deutsche Migranten damals in ihre Heimat schickten, auf Papier, das vergilbt ist und sich an der Falz langsam auflöst: All die Hoffnungen, an die sich heute junge afrikanische Bootsflüchtlinge klammern, findet man auch da schon, nur eben auf Deutsch. Wer sich in Amerika anstrengt, "der kann in kurzer Zeit sich etwas Vermögen erwerben, und kann ein gutes Leben dabei haben", schwärmt da etwa ein deutscher Flüchtling, Alvin Schreiter, 33, und genau das ist es, worum er sich in der deutschen Dauerdepression betrogen gesehen hatte: eine faire Chance. Nicht einmal trockenes Brot könne "der Arbeiter in Deutschland" sich noch ansparen, schreibt er 1876 wütend. So hoffnungslos sei die Lage.

Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, gibt es unter den afrikanischen Erntehelfern, die in Südspanien sklavenähnlich schuften, auch welche, die ihre Familie in der Heimat anflunkern: Es gehe ihnen prächtig, sie seien bereits reiche Leute und würden bald die Familie nachholen. Ähnlich schrieb im 19. Jahrhundert Alvin Schreiter in seine alte Heimat nach Sachsen: "Was war ich denn in Deutschland? Ein armer Schlucker. Was bin ich in Amerika? Ein angesehener Mann." Im Krisenjahr 1873 ist er mit seiner Frau und der einjährigen Tochter Anna auf einem wackeligen Schiff durch schwere See über den Atlantik gekommen (an Deck musste alles festgebunden werden, schreibt er darüber, "hier wurde gespeit und geschissen, was nur raus wollte"), und jetzt skizziert er der Verwandtschaft ein Schlaraffenland: "Hier wächst alles sehr schnell, denn es ist sehr warm." Die Kartoffeln wüchsen "so groß wie Bierkrüge".

In Wirklichkeit leidet Alvin Schreiter weiter Not, wie die Archivare des Hamburger Auswanderermuseums recherchiert haben, die heute seine Briefe und die vieler weiterer deutscher Armutsmigranten hüten. Trotzdem lässt er seiner Mutter ausrichten, sie solle doch herkommen, sich mit eigenen Augen von diesem Wunderland überzeugen. "Keinen Hunger braucht sie hier zu leiden, denn das ist in Amerika nicht Mode. Überall wird getafelt wie zur Kindstaufe. Fleisch essen wir alle Tage u. auch satt."

In den USA: "Bücklinge sind, selbst bei Gerichten, nicht üblich."

Erst als sich sein Bruder tatsächlich ankündigt, im Jahr 1879, gesteht er: "Ich rate Dir jetzt nicht dazu, denn wir haben jetzt einen schlechten Zeitpunkt, es gibt viele hundert Menschen, die keine Arbeit haben. Ich arbeite in einer Dampfschneidemühle. Da arbeite ich nun 6 Wochen, habe aber noch keinen Lohntag gehabt." Das Schicksal eines Neu-Migranten.

Aus vielen Briefen spricht auch der Freiheitsdrang. 1835 preist Heinrich Georg, frisch in Amerika angekommen, in einem Schreiben an seine Familie die Vorzüge der Demokratie: "Ihr genießt hier alle Freiheiten, freies Vereinsrecht, Massenversammlungen u.s.w., ohne Gendarmen und ohne Gefahr für Ruhe und Sicherheit." Auch die in Deutschland übliche devote Haltung gegenüber Mächtigen sei in den Vereinigten Staaten unüblich: "Das Hutabziehen, sowie Complimente und Bücklinge sind, selbst bei Gerichten, nicht gebräuchlich."

Schleuser "nutzen die Verzweiflung von Flüchtlingen aus", sagt heute der italienische Innenminister Alfano. Die EU hat ihnen den Kampf angesagt, mit den Nachtsichtgeräten und Schnellbooten der Frontex-Truppe. Aber seine größte Blüte erreichte das Gewerbe der Schleuser im Europa des 19. Jahrhunderts, schon allein deshalb, weil die Zahl der potenziellen Kunden damals bedeutend größer war als heute. "Auswanderungsagenten" nannten sich die Männer, die tolle Geschichten erzählten über das angeblich süße Leben in Amerika, und die gegen Geldsummen in der Höhe ganzer Jahreseinkommen eine Atlantiküberquerung organisierten. Vom Fährunternehmer bekamen sie oft auch noch eine Provision pro geworbenem Passagier, was sie manchmal zu windigen Lockmethoden und falschen Versprechungen anspornte und ihnen den Beinamen "Seelenverkäufer" eintrug. Vor allem in Osteuropa schmuggelten sie Menschen, die ihrem Elend entrinnen wollten, auch heimlich an Grenzposten vorbei. Juden, die um die Wende zum 20. Jahrhundert vor antisemitischen Pogromen im Osten fliehen wollten, aber oft keine Pässe besaßen, hatten keine andere Wahl, wenn sie zu den Fährhäfen in Hamburg oder Rotterdam durchkommen wollten.

Von Politikern wurden die Schleuser oft als Kriminelle bezeichnet und des Menschenhandels bezichtigt. Heute aber, hundertfünfzig Jahre später, werfen Europas Geschichtsbücher ein anderes, ein mildes Licht zumindest auf jene, die den Hungrigen und Verzweifelten Europas halfen, ein neues Leben zu beginnen. "Die steigende Nachfrage verlangte nach einem Berater, der eine Auswanderung organisieren und den Auswanderungswilligen beraten konnte", schreibt etwa die Historikerin Barbara Schuttpelz verständnisvoll. Sicher, räumt sie ein: Manche arbeiteten illegal. "Insgesamt leisteten sie aber einen wesentlichen Beitrag zum reibungslosen Ablauf der massenhaften Auswanderung."

Die Neue Welt empfing die Flüchtlinge oft großherzig, viele fanden das Glück, das sie gesucht hatten. Der Rheinländer Carl Schurz etwa kam 1852 als kaum 23-Jähriger an, und er erlebte die Stadt New York zunächst als Schock: "Da war ich nun in der großen Republik, dem Ziel meiner Träume und fühlte mich so gänzlich einsam und verlassen." 25 Jahre später war er Innenminister der USA, ein Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei und das Wahlrecht der Frauen.

Anderen fiel die Integration schwer. Alvin Schreiter, der Amerikaflüchtling mit den Kartoffeln, die angeblich so groß seien wie Bierkrüge, gehörte zu denen, die sich im 19. Jahrhundert in einer Parallelgesellschaft einrichteten, in der Colonia Saxonia in Pennsylvania (Pennsylvanien, sagte er selbst), und von dort schrieb er seiner Familie in Zwickau: "Amerika hat aber auch Schattenseiten, was manchen nicht gefällt. Es besteht bey uns das Sonntagsgesetz, wo kein Bier, Schnaps oder Wein geschenkt werden darf, und bloß an Wochentagen kann man etwas im Wirtshaus zu trinken bekommen." In manchen US-Staaten herrsche sogar vollständige Prohibition: "In solche Staaten geht man nicht."

"Wußte doch keiner, wie lange er keinen Wein mehr trinken würde."

Davon erzählt auch die 25-jährige Elisabeth Philomena Schmidt, genannt Else: Als ihr überladener Atlantikdampfer sich im Prohibitionsjahr 1926 New York nähert, da waren die deutschen Passagiere vom Anblick ergriffen. "Alle standen wir an Deck und betrachteten den dunklen Flecken Land", schreibt sie in einem Brief. "Amerika! Ob es wohl unsere Wünsche erfüllen würde? Bevor unser Schiff in die amerikanische Zone kam, war fast die ganze Herrenwelt beduselt. Wußte doch keiner, wie lange er keinen Wein mehr trinken würde."

Das Elend, das sie in Europa hinter sich ließen, war da noch immer ähnlich: Armut und politische Spannungen, genau die Zutaten, die heute in Afrika Flüchtlingsströme auslösen, auch wenn es Rinnsale sind im Vergleich zu jenen im alten Europa. Elisabeth Philomena Schmid, geboren 1901, kommt aus einem Elendsviertel Frankfurts, Deutschland ist gerade wieder tief depressiv, es gibt Putsche, und eine Serie von mehr als 300 politischen Morden von rechts hält die Minderheit der überzeugten Demokraten des Landes in Angst. Die Hyperinflation drei Jahre zuvor hat alle Ersparnisse der Familie pulverisiert; und niemand weiß, wie dieser Irrsinn in Deutschland noch weitergehen wird.

Heute würde man vielleicht sagen: Klingt nach Nigeria. Oder Libyen. Aber nun, keine hundert Jahre später, steht Deutschland wirtschaftlich gut da, es ist ein Sehnsuchtsort für Ärmere geworden, inmitten eines Europas, das sich gegen sie mit großem Aufwand abschottet.

© SZ vom 17.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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