Entführte Studenten in Mexiko:Aus Wut wird Rebellion

Student protest in front of Mexican General Attorney headquarters

Studenten demonstrieren vor der Zentrale der Generalstaatsanwaltschaft in Mexiko-Stadt

(Foto: dpa)
  • Die Suche nach 43 Studenten in Mexiko führt zu korrupten Polizisten, brutalen Drogenbanden und Massengräbern.
  • Bei den Toten soll es sich jedoch nicht um die vermissten Studenten handeln.
  • Die Affäre wächst sich für Staatschef Peña Nieto zur Staatskrise aus.

Von Peter Burghardt, Buenos Aires

Bernardo Flores Alcaraz. César Manuel González Hernández. Alexander Mora Venancio. 43 Namen stehen auf 43 Plakaten mit 43 jungen Gesichtern, es sind die Namen und Gesichter des derzeit grausamsten Rätsels von Mexiko. Am Samstag trugen Tausende Demonstranten Fotos der seit drei Wochen verschwundenen Studenten durch das mordreiche Seebad Acapulco am Pazifik. "Ich will, dass er mit mir nach Hause kommt, noch heute Nachmittag", sagte der verzweifelte Vater eines vermissten Sohnes. "Wo sind sie?", fragten die Unterstützer, 110 Millionen Mexikaner fragen sich das. Die Antwort kennen offenbar auch der Präsident Enrique Peña Nieto und sein chaotischer Sicherheitsapparat nicht.

Am 26. September waren die Lehramtskandidaten aus Ayotzinapa während Protesten in der Provinzstadt Iguala im Bundesstaat Guerrero beschossen und verschleppt worden. Man nennt solche künftigen Dorflehrer "normalistas", sie stammen aus bedürftigen Familien und bringen angesichts der Armut ihrer Heimat revolutionäre Ideen auf die Straße. Wie es aussieht, ließen der Bürgermeister von Iguala und seine Frau die zivilen Herausforderer von kriminellen Gemeindepolizisten kidnappen und der Drogenbande Guerreros Unidos ausliefern. Seither fehlt von den mutmaßlichen Opfern jede Spur, und mutmaßliche Rädelsführer sind flüchtig. Dafür tauchen ständig Massengräber auf. Das Grauen von Iguala wächst sich zur Staatskrise aus.

Nie in den bisher zwei Jahren seiner Ära sah der Staatschef Peña Nieto so hilflos aus. Dabei ist er stets gestylt wie ein Schauspieler aus der Telenovela. Der Strahlemann hatte die skandalgeschwängerte Revolutionspartei PRI 2012 mithilfe seiner PR-Maschinerie wieder an die Macht gebracht und verspricht, Mexiko zu modernisieren. Er setzte mit Unterstützung von Teilen der Opposition neoliberale Reformen durch - trotz linken Widerstandes dürfen nun sogar ausländische Privatfirmen in den staatlichen Ölkonzern Pemex investieren, zuvor ein nationalistisches Tabu. Selbst der Telekommunikationsmogul Carlos Slim, seit Jahren der reichste oder zweitreichste Mensch der Welt, soll auf Peña Nietos Druck sein Handymonopol schleifen. Aber der smarte Wortführer steht auf einem Friedhof.

Die Tragödie geht weiter

Mindestens 70 000 Menschen waren in den sechs Jahren seines konservativen Vorgängers Felipe Calderón ermordet worden, vielleicht auch noch viele mehr. Sie starben im Krieg der Rauschgiftkartelle, der Polizei und der Armee, Calderón hatte Zehntausende Soldaten ins Gefecht geschickt. Unter Peña Nieto geht die Tragödie weiter, nur wurde zuletzt nicht viel darüber gesprochen. Außer dann, wenn die Regierung verhaftete Kokainbarone wie vor einigen Monaten Joaquín "El Chapo" Guzmán vom Verbrechersyndikat Sinaloa präsentierte oder wie an diesem Wochenende einen Obersöldner der "Tempelritter". Zahllose Uniformierte wechselten offiziell die Fronten oder lassen sich von der Mafia bezahlen. "Narcos und Polizei, die selbe Schweinerei", war bei der Kundgebung in Acapulco zu hören. Die "Narcos" sind in Lateinamerika die Drogendealer, Menschenhändler, Killer, Entführer, Erpresser.

Als besonders infiltriert gelten die Behörden in ärmlichen, korrupten und vom Staat verlassenen Gegenden wie Michoacán, Tamaulipas oder eben Guerrero, wo dieses Drama spielt. In Iguala konzentriert sich die Katastrophe in diesen Tagen wie unter einem Brennglas. Der untergetauchte Bürgermeister, seine Frau und Polizisten scheinen mehr oder weniger direkt zur Drogengang Guerreros Unidos ("Vereinte Krieger") zu gehören. Diese Schmuggler und Mörder sind eines der diversen Kleinkartelle, die sich von zerfallenden Großkartellen abgespalten haben. Man befürchtet, dass die 43 Studenten von ihnen getötet wurden. Drei weitere Lehramtsbewerber und drei Passanten starben bereits am 26. September im Kugelhagel von Iguala. Ein toter Student lag anderntags mit ausgestochenen Augen und abgezogener Gesichtshaut auf dem Asphalt, es war die sadistische Sprache der Narcos. Aber was geschah mit den anderen?

Im Umkreis von Iguala finden sich immer mehr Gruben mit Leichen. Doch angeblich gehört keiner der bisher geprüften Körper zu den Gesuchten, wobei den teilweise verkohlten Toten auch keine andere Identität zugeordnet werden kann. Namenloser, menschlicher Abfall. "Sitzen wir auf Leichen?", schaudert die preisgekrönte Schriftstellerin Elena Poniatowska in der spanischen Zeitung El País. Killing fields im Land der Strände, Pyramiden und feinen Küche. Insgesamt gelten in Mexiko bis zu 22 000 Menschen als unauffindbar, wie verschluckt vom Erdboden. Mitten in einem florierenden G-20-Industriestaat südlich der USA, dessen Wirtschaft derzeit besser läuft als die des Rivalen Brasilien im Süden. Dessen Präsident Enrique Peña Nieto für eine strahlende Zukunft wirbt.

Schon vor dem Mysterium von Iguala hatte es ganz in der Nähe eine weitere Katastrophe gegeben. Soldaten erschossen 22 vermeintliche Delinquenten, die in Wahrheit wohl Unschuldige waren, acht von ihnen hatten sich nach einer Schießerei sogar ergeben. Der Fall Iguala sei "eine Prüfung für die Institutionen und die mexikanische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit", verkündet Peña Nieto und verspricht Aufklärung, das übliche Gerede, doch die allermeisten Morde bleiben ungesühnt. Mexikos Lehrer und Studenten wollen ihre Demonstrationen für die 43 Kollegen fortsetzen. Die Wut wird zur Rebellion.

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