Andreas Kümmert beim ESC-Vorentscheid:Er möchte lieber nicht

Er hat gewonnen und sagt nein. Andreas Kümmert will nicht nach Wien zum Finale des Eurovision Song Contest fahren. Wer die Karriere des Sängers verfolgt hat, kann davon nicht überrascht sein.

Von Kathleen Hildebrand

Ein Grand-Prix-Vorentscheid ist kein Ort für uneindeutige Gefühle. Es musste also etwas Ungewöhnliches passiert sein, als das Publikum sich am Donnerstagabend nicht entscheiden konnte zwischen Applaus und Buh-Rufen, zwischen Verständnis und großer Enttäuschung.

Andreas Kümmert hatte gewonnen. Mit seinem Lied "Heart of Stone" wollten ihn die Zuschauer zum Eurovision Song Contest nach Wien schicken. Aber Andreas Kümmert will nicht nach Wien. Er sei "nicht wirklich in der Verfassung, diese Wahl anzunehmen", sagte er - und ließ der Zweitplatzierten Ann Sophie den Vortritt.

Andreas Kümmert hat eine der unwahrscheinlichsten Karrieren der deutschen Casting-Show-Ära gemacht. Mit seiner röhrenden Rockerstimme scheint er aus einer anderen, ehrlicheren Zeit zu kommen. Seine Helden sind Black Sabbath, die Eagles und AC/DC, er hört Vinyl statt iPod. Mit seinen weiten Jeans und den schmuddeligen Kapuzenpullovern passt er nur als große Antithese ins Fernsehpopgeschäft.

Aber das unverstellte Gefühl, mit dem er singt, erfüllt ein anderes, wichtiges Kriterium für Erfolg in der großen Gefühlsmaschinerie des Pop: das der Authentizität. Kümmert scheint der Beweis dafür zu sein, dass die Menschen neben perfektem Plastik-Pop jetzt wieder Lust auf das Erdige, Echte haben.

"Oh mein Gott!" rief Nena vor Begeisterung

Als Kümmert vor zwei Jahren in der Casting-Show "The Voice of Germany" auf die Bühne trat, schuf er einen der seltenen seelenvollen Momente des Franchise-TV. Zwei Takte, fünf gesungene Worte und das Publikum schrie. Kümmert sang "Rocket Man" von Elton John. Er klang wie Joe Cocker. Er hatte den Blues. Ein Juror nach dem anderen drückte den Buzzer, sie wollten ihn sehen. Ihre Sessel drehten sich um. Und vor ihnen stand: Ein kleiner runder Mann mit rotem Zottelbart und Halbglatze. Mit unvorteilhafter Brille und Karohemd. Er war nicht, was die Welt von einem Popstar erwartet. Und trotzdem rief Nena "Oh mein Gott!" vor Begeisterung. Der Paul-Potts-Effekt, keine Frage.

Kümmert gewann "The Voice" haushoch. Kümmert, der vorher schon 150 Auftritte im Jahr gespielt hatte - in kleinen Clubs und Pubs - sollte nun riesige Hallen füllen. Sein Lied "Simple Man" stand auf Platz zwei der deutschen Single-Charts, sein Album "Here I Am" wurde ein Erfolg. In seinem Plattenvertrag bei Universal ließ er sich zusichern, dass er weiter mit seiner Band aus alten Kumpels auftreten könne und nicht mit Profi-Musikern. Eine Weile schien es, als könne der "Joe Cocker aus Franken" es sich ganz gemütlich einrichten im Popgeschäft, ohne allzu große Zugeständnisse zu machen.

Doch schon während er bei "The Voice" Runde um Runde nahm, schien Andreas Kümmert immer unglücklicher zu werden. Der Rummel war ihm zu viel, schnell ging es nicht mehr nur um seine Musik, sagte er später in einem Interview. Die Menschen stellten ihm persönliche Fragen, wollten seinen Kleidungsstil verändern. Kümmert fühlte sich nicht wohl in der Welt, in die ihn seine große Stimme gebracht hatte. Er habe aussteigen wollen, sagte er später, aber die Verträge hätten das nicht zugelassen.

Im "The Voice"-Finale versagte ihm die Stimme, Kehlkopfentzündung. Die anschließende Tour musste er absagen. Und auch jetzt, vor dem ESC-Vorentscheid in Hannover war Kümmert wieder krank, noch am Mittwoch hieß es, er liege mit 40 Grad Fieber im Bett. Zur Pressekonferenz konnte er nicht kommen. Die Bild-Zeitung hatte kurz zuvor von wüsten Beleidigungen berichtet, die er zwei jungen Frauen bei einem Konzert entgegen gerufen haben soll.

"Ich bin überwältigt von euch allen, von Deutschland", sagte Andreas Kümmert, als er am Donnerstagabend in Hannover gewonnen hatte. Die Überwältigung war offenbar nicht nur eine des Glücks. Ab und zu umarmt die Popmusik das Fremde, Widerständige und nutzt es als Frischluftzufuhr aus dem Off. Andreas Kümmert hat sich der Umarmung entzogen.

Anmerkung der Redaktion: Auf Andreas Kümmert entfiel beim Vorentscheid zum ESC mit 78,7 Prozent ein fast viermal so großer Stimmenanteil wie auf die zweitplatzierte Ann Sophie (21,3 Prozent).

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