Migration:Flüchtlinge in Frankreich: Vom Dschungel in den Sumpf

Tausende warten in einem Hütten- und Zeltdorf in Calais auf eine Gelegenheit, nach England zu entkommen. Jetzt soll das Camp geräumt werden.

Reportage von Christian Wernicke, Calais

Vorsichtig tastet sich Hozan Ali voran. Jeder Schritt ist gewagt in diesem Schlamm. Seine grünen Gummistiefel versinken bis über die Knöchel im graubraunen Moder. Ali, der Kurde aus Syrien, kämpft sich trotzig zu seinem Plastikzelt. Der 31-jährige Mann mit dem Lockenkopf muss grinsen, als er auf die blau-grüne Plane mitten im Dreck zeigt: "Ich hab' noch Glück gehabt, dieser Platz liegt etwas höher als die da unten." Er deutet auf die sieben Nachbarzelte, die nur zehn Meter weiter im Morast versinken. Dann sagt er: "Willkommen in Grande-Synthe."

Grande-Synthe hat alle Chancen, sehr bald weltberühmt zu werden. Oder besser: weltberüchtigt. Die Kleinstadt südwestlich von Dünkirchen muss befürchten, zum neuen Fluchtpunkt Tausender Migranten zu werden, die verzweifelt versuchen, irgendwie - per Lkw, per Zug oder versteckt auf einer Fähre - über den Ärmelkanal nach England zu gelangen. Momentan leben 1800 Menschen in dem morastigen Wäldchen am Stadtrand. Die meisten sind Kurden, und es werden täglich mehr: Ali zum Beispiel ist erst seit einem Tag da. Vorher hat er vier Monate lang in Calais gehaust, in jenem "Dschungel" genannten Hütten- und Zeltdorf, das seit vorigem Sommer mit mehr als 8000 Bewohnern zum Schandmal französischer Flüchtlingspolitik geworden ist.

Nun will die Pariser Regierung "la jungle" abreißen. Ali wollte nicht warten, bis der erste Bulldozer anrückt. Er hat seine Siebensachen in eine Plastiktüte gestopft und ist mit Bahn und Bus weitergezogen. 33 Kilometer nach Nordosten, vom Dschungel in den Sumpf. "Calais war für mich die Hölle", sagt er nach 24 Stunden in Grande-Synthe, "aber im Vergleich zu diesem Ort war's dort ein Paradies."

Die Migranten wurden auf das Gelände einer früheren Müllhalde verbannt

Der Dschungel lebt. Noch jedenfalls. Es wirkte wie ein letztes Aufbäumen vor dem sicheren Tod, was sich diese Woche in dem Notlager am Ostrand von Calais abspielte. Kamerateams aus einem Dutzend Ländern drängelten sich durch den Dreck, während eine französische Amtsrichterin am Dienstag das Notlager inspizierte. Die hohe Beamtin prüfte den letzten juristischen Versuch von zehn Hilfsorganisationen (NGOs), die Planierraupen zu stoppen.

Die ehrenamtlichen Helfer präsentierten den Besuchern, was sie alles geschaffen haben in den beinahe zwölf Monaten, seit die französische Regierung im Frühjahr 2015 die Migranten aus der Stadt und auf das Gelände einer früheren Müllhalde verbannt hatte. Der "Staats-Slum" wuchs zu einer kleinen Stadt aus Sperrholz und Plastikplanen heran. Nur noch wenige Flüchtlinge hausen in Zelten. Aktivisten aus England zimmerten 1600 Bretterbuden, bauten Moscheen und errichteten Kirchen aus Kanthölzern und festem Segeltuch. Die Richterin hat all das gesehen. Und auch "Jungle Books" und "Baloo" besucht, die Bibliothek und das Jugendzentrum für die mehr als 300 Minderjährigen, die allein in Calais gestrandet sind.

Später ging die Richterin auch am Laden von Olif Khan vorbei, dem afghanischen Händler, der hinter dem Maschendraht-Fenster seiner Bretterbude Obst und Öl, Nudeln oder Zigaretten feilbot. 6000 Euro hat der vollbärtige, 32 Jahre alte Mann zusammen mit zwei Freunden vor drei Monaten für die Hütte bezahlt. Er war glücklich, voller Vorfreude auf gute Geschäfte. Jetzt ist das Geld futsch, der Abriss ruiniert ihn. Raubtier-Kapitalismus im Dschungel. Khan, Vater zweier Kinder daheim am Hindukusch, blickt hilflos drein. "Ich weiß nicht, wie ich jetzt noch etwas nach Hause schicken soll." Draußen an der Holztür hängt ein Flugblatt: "Keine Vertreibung!" Der Zettel ermahnt alle Dschungelbewohner, sich unbedingt ordentlich zu benehmen während des Besuchs der Richterin. Der letzte Satz verheißt "Liebe und Frieden für alle".

Fast jeder im Dschungel trägt ein Messer bei sich

Nur, das ist hohle Lager-Romantik. Am besten wissen das genau jene NGOs, die nun gegen die Räumung klagen. Monatelang hatten sie die unmenschlichen Zustände im Lager angeprangert: Gewalt, Drogenhandel, Alkoholmissbrauch, Vergewaltigung, Prostitution. Fast jeder im Dschungel trägt ein Messer bei sich, selbst Kinder ziehen auf Nachfrage grinsend einen Teppichschneider aus der Hosentasche. "Ja, wir wollen weiterhin, dass der Dschungel verschwindet", beteuert François Guennoc, "aber bitte geordnet!"

Guennoc ist Geschäftsführer von "L'Auberge des Migrants", der größten Hilfsorganisation in Calais. Seine wohltätige "Herberge" wuchs binnen Wochen zu einem riesigen Apparat heran: Bis zu 200 Freiwillige rackern täglich in drei Werkhallen, zimmern Bretterbuden, sortieren Kleiderspenden, kochen 2000 Essenrationen. Die Fixkosten dieser Operation liegen bei 39 000 Euro monatlich und werden durch Spenden gedeckt. Es gehe ihm nicht darum, seine Mission zu retten, versichert Guennoc. "Ich wäre all den Stress gerne los", sagt der Schriftsteller, "lieber setze ich mich an meine Bücher." Aber vorerst macht der 63-Jährige weiter. Er kämpft, "weil, ich kämpfen muss". Der Staat müsse dem Dschungel Aufschub gewähren. "Bevor man hier alles niedermacht, muss der Staat den Menschen im Lager wenigstens eine anständige Alternative anbieten."

Der juristische Streit um den Dschungel ist im Kern ein Zahlenkrieg: Die Präfektin Fabienne Buccio, die Statthalterin der Pariser Zentralregierung, vermutet "800 bis 1000 Menschen" im Südteil des Lagers. Das ist jene Zone, die zuerst abgerissen werden soll. Für diese tausend Bewohner sei genügend Platz entweder in einem neuen Containerdorf nebenan oder in mehr als 100 kleinen Auffanglagern im ganzen Land. Die Hilfsorganisationen hingegen haben nachgezählt - und kommen auf mehr als dreimal so viele Dschungel-Bürger: exakt 3455 Migranten in der Süd-Zone (insgesamt etwa 5500), darunter 293 Minderjährige ohne Angehörige. 90 dieser Kinder geben an, sie hätten einen nahen Verwandten in England - was ihnen nach internationalem Recht einen Anspruch auf freie Überfahrt nach England garantiert.

Zäune, Kameras, Polizisten: Über den Ärmelkanal schafft es kaum einer mehr

Einer dieser Jungen ist Romal Safi. Er sei 15, beteuert der Bursche, dem schon dunkle Kotletten und ein zarter Oberlippenbart wachsen. Seine Papiere hat er verloren auf der Flucht aus der ostafghanischen Provinz Laghman. Safi war meist zu Fuß unterwegs, hat es durch die Türkei, Bulgarien und Deutschland bis an die Nordsee geschafft. Calais ist seine Sackgasse. Jede Nacht geht er raus, klettert über Zäune und Stacheldraht, um an der Autobahn oder im Hafen in einen Lkw zu klettern. "Neulich war ich fast drin", erzählt er stolz, "aber sie hatten mich per Video-Überwachung entdeckt und festgenommen." Egal, der schmächtige Kerl ballt die Faust: "Ich versuch's wieder. Jede Nacht!"

Safis linke Wange ist geschwollen, am Hinterkopf spürt er mehrere Beulen. "Polizei", sagt der Junge und macht eine Handbewegung, als hielte er einen Schlagstock in der Hand. Mit mehr als 1300 Mann bewachen Frankreichs gefürchtete "Sicherheitskompanien der Republik" (CRS) Eurotunnel und Hafen in Calais. Menschenrechtler im "Legal Center", einer Art Rechtsberatung mitten im Dschungel, zählen vermehrt Fälle gewalttätiger Übergriffe. Mal schlügen wohl Polizisten zu, mal prügele eine "zivile Miliz", beklagt die Anwältin Marianne Humbersot, "und das Erstaunliche ist: Die Vorgehensweise ist schrecklich ähnlich". Die Juristin hat mehr als 50 Fälle archiviert, darunter brutale Misshandlungen von Jugendlichen, die man mit Handschellen fesselte.

Rüber nach England kommt so gut wie niemand mehr. Höhere Zäune, neue Kameras, mehr Polizisten haben Calais zur Endstation gemacht. Inzwischen steigt der Druck. Bei Demos gab es Handgemenge, im Januar bedrohte ein Anwohner linke Spontis mit seinem Luftgewehr. Vier von zehn Bürgern in Calais wählen den Front National, die konservative Bürgermeisterin Natasha Bouchart ruft nach der Armee. Auch deshalb will Paris nun den Dschungel roden. Die Flüchtlinge im Lager nehmen es fast apathisch hin. Sie hocken in Teestuben wie dem "Kabul Café" und warten ab. "Nein, dies ist für niemanden ein Zuhause", sagt Malik Khan, der IT-Experte aus Kabul, "niemals". Und sein Freund Safis erzählt, dass der Dschungel "viele krank macht, auch im Kopf". Niemand von ihnen möchte bleiben im Dschungel - aber weg von hier wollen sie auch nicht.

Es sei denn nach England. Das bleibt das Ziel, für alle. Auch deshalb ist Hozan Ali in den Sumpf von Grande-Synthe gegangen. Angeblich stehen hier die Chancen günstiger, unerkannt in einen Lkw nach Dover zu gelangen. Noch, der französische Staat wird nachrüsten. Sobald der Dschungel fällt, werden die Flüchtlinge sich Unterschlupf in anderer Wildnis suchen. Notfalls im Schlamm, wie in Grande-Synthe. Dort errichten nun die Ärzte ohne Grenzen ein neues Flüchtlingslager, für 2500 Menschen, streng nach UN-Standard. Es wird nicht reichen.

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