Europa:Alte und neue Grenzen

Migration zu steuern, ist komplizierter als das Errichten von Mauern. Aber es ist auch der einzig vernünftige Weg.

Von Steffen Mau

"Grenzen sind so 80er", den Slogan plakatierte die Piratenpartei im Wahlkampf zur Europawahl 2014. Die grenzenlose Welt, so schien es einigen, war in Reichweite gerückt, dank Digitalisierung, Globalisierung und Grenzabbau. Nun wirken solche Forderungen wie aus der Zeit gefallen. Die Grenzen sind zurück - als politische Forderung, als Bedarfsanzeige, als Realität.

Kürzlich befanden einige der Meisterdenker des Landes wie Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski: Der Staat brauche die Grenze, um Territorialität zu markieren und Souveränität auszuüben, ohne Grenze keine Ordnung. Nationale Fortifikation wurde als probates Gegenmittel gegen das Überrolltwerden durch Fremde gepriesen. Auch Umfragen bezeugen eine Sehnsucht nach einer Wiederkehr nationaler Grenzen. Die Mehrheit der Deutschen will demnach nationale Grenzen zurück.

Die Behauptung der unauflösbaren Verknüpfung von Territorialität, Grenzbewehrung und Schutz trifft unsere Intuition und mag während der Zeitläufe von den Ritterburgen bis zum ausgereiften Nationalstaat ihre Gültigkeit besessen haben. Ob der nationale Festungsbau im 21. Jahrhundert funktioniert, kann man aber bezweifeln. Diese Art der Grenzen ist weder herstellbar noch effektiv. Selbst militarisierte Grenzen sind durchlässig und lange Landesgrenzen kaum zu überwachen. Schusswaffengebrauch, drakonische Strafen und Hightech-Grenzen schrecken Grenzübertreter meist nicht. Den allfälligen Möglichkeiten der Einreise als Tourist und des Bleibens über den Ablauf des Visums hinaus kann man nur effektiv begegnen, wenn man auf Verdacht alle draußen hält. Das kann kaum gelingen.

Die vermeintliche Binsenweisheit, dass ein Mehr an Restriktivität beim Zugang immer ein Weniger an Migranten bedeutet, lässt sich leicht entkräften. Rigide Grenzregime und restriktive Zuwanderungspolitik können "Caging-Effekte" hervorrufen: Sie schließen also Migranten, die es einmal geschafft haben, dauerhaft ein und machen die Rückkehr in das Heimatland unwahrscheinlich. Die USA, kein Beispiel für eine laxe Grenzkontrolle, kennen das: Mehr als elf Millionen illegale Einwanderer leben hier. Viele bleiben, weil sich mit der Rückwanderung alle Tore in die USA verschließen würden. Restriktive Zuwanderungspolitik kann die zirkuläre Dynamik von Migration unterbrechen und diese zur Einbahnstraße werden lassen. Auch mit jährlich mehr als 400 000 Rückführungen lassen sich diese Zahlen kaum senken.

Die Abwesenheit von Grenzen existiert nur in der westlichen Selbstwahrnehmung

Spanien ist ein Gegenbeispiel. Es ist wohl das europäische Land mit dem stärksten Anstieg der Migrationspopulation in Europa bis zur Krise 2008 - ohne ein Anwachsen rechter Antiimmigrationsparteien. Allein von 2000 bis 2008 steigerte sich der Anteil der im Land lebenden Migranten von 4 auf 14 Prozent. Viele kamen vom Balkan, aus Nordafrika, aus Südamerika. Bis heute ist es leicht, legal nach Spanien zu migrieren, dank Arbeitskräfteanwerbung und offener Türen für saisonale Migration. Auch im Zuge der Wirtschaftskrise und der dramatischen Arbeitslosigkeit hat Spanien wenig an seiner liberalen Politik verändert, sondern den Markt den Zu- und Wegzug regeln lassen. Die Zuwanderungszahlen gingen indes deutlich zurück, sobald es weniger Beschäftigung gab. Der Anteil der Migranten, die weiterzogen oder nach Hause gingen, stieg deutlich an. Manche Dörfer oder Stadtteile, welche vor Jahren noch von Migranten geprägt waren, wirken nun fast leergezogen. Mit Tür-zu-Grenzen wären sie wohl geblieben, samt allen problematischen Folgen. Wenn man beide Modelle miteinander kontrastiert, so stehen die USA für den Fall, in dem nicht ganz so viele kommen, aber viele bleiben, und Spanien für den Fall, in dem viele kommen und auch wieder gehen.

Die Abwesenheit von Grenzen existiert nur in der Selbstwahrnehmung des Westens. Dass Grenzen leicht überwindbar geworden seien, wollen viele Menschen des globalen Südens daher auch gar nicht glauben. Grenzen sind selektiver geworden, mit Mobilitätsgewinnen für einige und mehr Barrierewirkung für andere. Grenzkontrolle findet immer weniger an der Grenzlinie statt. Kontrolle wurde exterritorialisiert, privatisiert, durch Kooperation mit anderen Staaten gebündelt, in Puffer- und Transitzonen verschoben, durch Datenbanken aufgerüstet. Das hat viele Menschen unbeweglicher gemacht. So sind Mobilität und Immobilität zwei Gesichter der Globalisierung, durchgesetzt in Kontroll- und Grenzarrangements und kaum durch Zugbrücken an Rändern nationaler Territorien. Daher sind Grenzen für uns, die wir Mobilitätsprivilegien genießen, oftmals unsichtbar. Wirksam sind sie dennoch.

Auch wenn die Schlagbaumphilosophen das anders sehen: Die national-territoriale Selbstabschließung nach Vorbild des 20. Jahrhunderts ist eine unbrauchbare Lösung. Sie geht an der Wirklichkeit vorbei. Noch weniger kann man, wie Viktor Orbán es fordert, Grenzen "luftdicht versiegeln". Auch das Schließen der Balkanroute für Flüchtlinge ist nur ein bitterer Notbehelf. Der Brenner zeigt ebenfalls, wie groß der Konfliktstoff an Grenzen ist. Wer Migration gestalten will, braucht die halb geöffnete Tür für die reguläre Migration, auch aus Regionen jenseits der OECD-Welt. Legale Pfade des Eintritts können Massenfluchten über die grüne Grenze oder das Meer entlasten und schwächer machen. Das könnte man über ein einfaches und transparentes Einwanderungsgesetz regeln. Für die Fluchtmigration funktionieren nur Lösungen für ganz Europa.

Für die Kontrollfunktion der Grenze gilt, dass sie in kooperativen Grenzarrangements besser auszuüben ist als im nationalen Alleingang. Effektive Grenzpolitik funktioniert heute immer weniger einzelstaatlich, sondern vor allem multilateral. Das ist in einer globalisierten Welt gar nicht anders möglich. Aus der Grenze als Linie und territorial fixiertem Wall werden zunehmend weit aufgefächerte Kontrollzonen, allerdings ohne den Schließungsgrad zu erreichen, der einstmals für den nationalstaatlichen Container charakteristisch war. Die wirkliche Musik spielt heute irgendwo zwischen entgrenzender Globalisierung und nationalstaatlicher Einkapselung. Das ist in der EU so, aber auch in anderen Regionen dieser Welt. Nur so lassen sich Interessen an Freizügigkeit, Mobilität und humanitärem Schutz mit dem Interesse an Kontrolle verbinden. Es gilt: Nur dann, wenn man auf Partnerschaften setzt, Offenheit zulässt und auch die Bedürfnisse der Migranten und ihrer Herkunftsregionen Berücksichtigung finden, lässt sich Migration steuern. Ohne Zweifel ist das komplizierter als die Errichtung von Mauern. Aber es ist eben auch die einzig wirkliche Antwort auf die neue Dynamik von Mobilität und Migration.

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