Reisebuch über die Arktis:So viel Leben im eiskalten Weiß

Vincent Munier war in der Arktis unterwegs, um Landschaft und Tiere zu fotografieren. Doch oft tat er sich schwer, seine Motive zu finden.

Von Stefan Fischer

Auf den ersten Fotografien ist - nichts. Oder jedenfalls: fast nichts. Nur unterschiedliche Nuancen von Weiß. Helleres Weiß und dunkleres Weiß. Das ergibt in Ansätzen eine Struktur, aber noch keine Landschaft. "Im Herzen des ,Whiteout' ist die Sicht so schlecht, dass jede Orientierung verloren geht und die Berge verschwinden", schreibt der Fotograf Vincent Munier. "Die Eisberge scheinen wie ausradiert! Es ist unmöglich, Himmel und Erde auseinanderzuhalten. Ein Schwindelgefühl."

Ein solches erfasst einen sogar beim bloßen Betrachten der Abbilder dessen, was Munier in der Arktis erlebt hat. Selbst die letzten Inuit-Siedlungen will er schnell hinter sich lassen, um "ganz alleine am Ende der Welt zu stehen, im Revier des Polarwolfs". Diese Tagebuchnotizen entstammen dem zweiten, ergänzenden Band seines Werks "Im eisigen Weiß". Es enthält ein paar Eindrücke über die Einsamkeit, die Kälte, die Angst und Abenteuerlust. Über Momente vollkommener Klarheit und andere größter Verwirrung und Sinnestrübung. Dazu rudimentäre Angaben zu den Fotografien aus Band 1. Darin: kein Vorwort, keine Bildunterschriften, keine Seitenzahl. Nur weiße Motive auf weißem Grund. Mitunter Schwarz: die Augen einer Schnee-Eule, die Fußsohle eines Eisbären. Ein einziges Mal nur Rot, im Kopfgefieder eines Alpenschneehuhns.

Lichtlose Helligkeit zeigt sich auf den meisten der Fotografien, in der das Weiß des Papiers eins wird mit dem des Schnees und des Himmels. Besonders eindrucksvoll sieht man das auf der Aufnahme einer fliegenden Schnee-Eule, deren Konturen sich auflösen in der Umgebung. Nur die schwarze Musterung einiger Federn gibt dem Tier eine Form wie aus groben Pixeln.

Das Weiß ist so dominant, dass Rentiere und sogar mächtige Moschusochsen darin verschwinden, Eisbären sowieso. Und nur noch ein Geweih hervorschaut oder ein zotteliger Buckel. Es ist nicht einfach, die Tiere auszumachen in der polaren Welt. Erstaunlich ist, wie viel Leben hier überhaupt existiert. Immer wieder hat Munier neben den genannten Tieren Polarfüchse, diverse Möwen und Gänse sowie Schneehasen vor seiner Kamera. Seine Fotografien wirken so, als würden die Bewohner der Arktis keine Notiz von Munier nehmen.

Obwohl er sich nicht nahezu unsichtbar machen kann in seiner roten Jacke und mit dem grünen Zelt. Am stärksten interessiert sich ein Rudel von Polarwölfen für ihn. Einmal laufen die Raubtiere aus großer Entfernung auf ihn zu, sie haben ihn bemerkt und wittern wohl Beute.

Auf einigen Aufnahmen sieht man, wie die Sonne durchdringt bis auf die Erde - sofort herrscht eine wirtlichere Stimmung. Gegen Ende des Bandes verschwinden dann das Weiß und auch das Licht. Und machen dem Grauschwarz der Nacht Platz, dem ebenfalls kaum Konturen abzugewinnen sind.

Vincent Munier: Im eisigen Weiß. Knesebeck Verlag, München 2016. Zwei Bände im Schuber, 264 und 48 Seiten, 68 Euro.

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