Nomaden in Sibirien:Besuch in einer gefrorenen Welt

Nomaden in Sibirien: Die Liebe zu den leeren Landen: Die meisten Nenzen leben und wandern bis heute mit ihren Rentieren.

Die Liebe zu den leeren Landen: Die meisten Nenzen leben und wandern bis heute mit ihren Rentieren.

(Foto: Dmitry Lovetsky/AP)

Die sibirische Jamal-Halbinsel ist das Gebiet der Nenzen. Das Volk, das sich "Menschen" nennt, überlebt nicht nur in diesem maßlosen, leeren Land. Es macht das Beste daraus.

Von Tina Uebel

So kalt ist es nicht, knapp unter null, und doch scheint es kalt genug zu sein, dass die Zeit gefroren ist. Als der Zug sich manifestiert, in dieser Landschaft aus Schnee, Eis, Leere, anorektischen Bäumchen und gefrorenen Flussbetten, dieser Zug aus mehr als hundert Rentieren, vor die hölzernen Schlitten gespannt, seitlich angelascht, ein paar auch frei flottierend. Auf den Schlitten alle Habseligkeiten: die Chums - Rentierhautzelte mitsamt Gestänge -, die Öfen, die Kissen und Matratzen, die Kleinkinder obenauf, der Hausrat, die Rentierfelle, irgendwo sicherlich auch der Generator, der abends die Smartphones lädt. An den Zügeln stolze, konzentrierte Männer und Frauen, ihre Gesichtsausdrücke harsch wie die Landschaft Jamal - ein Bild, als hätten die letzten 500 Jahre schlichtweg nicht stattgefunden. Bergrücken rekeln sich im Hintergrund wohlig in den arktischen Himmel.

Jamal ist ein Wort der Nenzensprache, und es bedeutet: Rand der Erde.

Nenzen heißt, wie übrigens auch Inuit, schlicht "Menschen", die Inupiat der amerikanischen Arktis nennen sich "richtige Menschen".

Alexey, mein Guide, hat mir erzählt, wie Wladimir, unser Gastgeber, jedes Mal, wenn sich ein Russe oder Tourist bei irgendwas intolerabel dämlich anstellt, gefasst und resigniert zu sagen pflegt: "Nenets don't do like that." Was sich, und Alexey hat das als Running Gag innerhalb seiner Familie etabliert, dann halt auch übersetzen ließe als: "Humans don't do like that." Menschen machen das nicht so. Und damit ist eigentlich schon alles gesagt darüber, was man jenseits des Polarkreises über unsereins denkt.

Unsere Welt hat keinen Rand mehr, sie ist kugelförmig und unser Spielplatz geworden, und ist es nicht erstaunlich, wie unsere Sehnsucht nach äußeren Rändern, nach den Extremen, nach den Grenzen, die es zu überschreiten gilt, immer noch so vehement ist? Mich darf man nicht fragen, ich trage die Diagnose Polarsucht seit über einer Dekade mit mir; ich trage sie am liebsten, naturgemäß, in die Polargebiete. In diese maßlosen, leeren Länder, die sich auflösen in eine überaus simple Eis-zu-Himmel-Gleichung, unter dem Strich steht: Du stirbst hier, Mensch, und zwar umgehend, denn du bist für all das nicht gemacht, so gar nicht.

Unter den Völkern, die ungeachtet dessen seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden der Arktis ein Leben abtrotzen, gehören die Nenzen zu den resistenteren. Es ist oftmals deprimierend, wie Kulturen oberhalb des Polarkreises es vermocht haben, in unvorstellbar kargem Environment, in langen Minus-fünfzig-Grad-Wintern zu überleben, aber innerhalb weniger Dekaden Moderne an Alkoholismus, Depression, häuslicher Gewalt und Lebensmüdigkeit zugrunde zu gehen drohen.

Den Nenzen gelingt es offenbar recht gut, sich zu behaupten. Ich werde später - es ist schwierig, Lektüre zu finden - darüber lesen, welch kriegerische Vergangenheit sie haben, im Kampf gegen die Russen, gegen die Christianisierung, gegen die Sowjets. Es ist schwer, sich das vorzustellen, lebt man mit ihnen. Gleichförmige Tage, in denen die Frauen den Ofen heizen, aus Rentierfellen Kleidung, Stiefel, Zelte nähen und zwischendrin Holz hacken, die Männer Bäume fällen und mittels Kettensäge zu filigranen Schlitten schreinern. Geschlafen wird im Chum auf Rentierfellen, die fabelhaft isolieren. Viermal am Tag gibt es Essen - Rentierfleisch, gebraten mit Nudeln, roh mariniert, halbgefroren als Sorbet, dazu Fisch, Brot, Kekse - Kalorien sind eine Maßeinheit der Wärme.

Nomaden in Sibirien: Trotz ihrer traditionellen Lebensweise lassen die Nomaden - wo es passt - die Moderne und Besucher an ihrem Leben teilhaben.

Trotz ihrer traditionellen Lebensweise lassen die Nomaden - wo es passt - die Moderne und Besucher an ihrem Leben teilhaben.

(Foto: Dmitry Lovetsky/AP)

"Sie lacht mich aus", sage ich zu Alexey. Ich hacke gerade Holz, an Tag drei habe ich den Holzhackgroove raus und just einen Batzen Baum so auf die Axt fallen lassen, dass er ordnungsgemäß gespalten auseinanderfiel, und wahrlich, das hat mich jetzt drei Tage Schweiß und Ingrimm gekostet. Praskowja, Wladimirs Frau, ist aus dem Chum getreten, sieht mir zu - kennerhaft, Holzhacken ist Frauenarbeit - und beginnt zu lachen. Nein, sagt Alexey, ihr gefällt das. "You become more like a human being." Was sich gleichermaßen übersetzen lässt als "Du wirst mehr ein Nenzen" als auch "Du wirst mehr zum Menschen."

Wie sollten wir überleben?

Alexey, 37, ist nicht von hier, sondern aus einem Dorf im Umland von Moskau, doch als er ins Polare kam, nach Salechhard, an der Wurzel der Jamal-Halbinsel gelegen, am östlichen Ufer des Ob, ist er geblieben. Die Liebe zu den leeren Landen. Die Sehnsucht. Er hatte ein Dutzend andere Jobs, jetzt baut er sein Tourismus-Unternehmen auf. Er bringt mir Snowmobiltechnik bei und Bäumefällen, den Umgang mit Kettensäge und Axt. In erster Linie aber lachen wir viel miteinander. Etwa zwei-, dreimal pro Jahr nimmt er Touristen mit zu den Nenzen. Aber er verbringt auch seit vier Jahren alleine Zeit mit ihnen.

Denn erst wenn man Zeit verbringt und - dies ist ein altertümlicher Ausdruck, aber wir reden von einer Welt, in der die Zeit gefroren ist - sich beweist, werden einen Dinge gelehrt. Ich war bei den Rentier-Saami in Lappland, ich kenne das Prinzip. Hier bin ich nicht lange genug, bloß eine Woche, aber ich fiebere mit Alexey, dem sie das Lassowerfen beigebracht haben, der vergangenes Jahr sein erstes Rentier mit dem Lasso fing und in diesen Tagen sein zweites und drittes. Der sich unter Wladimirs Aufsicht an seiner ersten Schlittenkufe müht. Fast schon wie ein echter Mensch.

Ob der Tourismus nicht ebendieses traditionelle Leben kaputtmache, ist eine oft gestellte Frage. Ich erlebe zumeist das gegenteilige Phänomen, Menschen wie Wladimir, Mikkel von den Saami oder auch die Inuit Qaanaaqs, die sich gezielt mit Tourismus ein Zubrot verdienen, um sich ihre Lebensweise weiterhin leisten zu können und ihren Kindern trotzdem eine Ausbildung zu ermöglichen. Nur die beiden kleinsten Kinder von Wladimir und Praskowja sind daheim, die drei älteren im Internat. Dass viele junge Leute, insbesondere die Frauen, nicht mehr zurückkehren, haben sie sich erst an das städtische Leben gewöhnt, steht auf einem anderen Blatt.

An Tag fünf migrieren wir. Bloß 15 Kilometer weiter, zu frischen Weidegründen, aber in etwa einem Monat, Mitte Mai, werden die Nenzen Hunderte Kilometer nach Norden ziehen. Ich wünschte, ich könnte dabei sein. Ich wünschte, ich könnte erlernen, wie man ein Rentier mit dem Lasso fängt; es gehört zu den Dingen, die ein Mensch können sollte. Jetzt werden zunächst die Chums - unser Camp besteht aus dreien, sprich, drei Familien - abgebrochen, dann wird die Herde mittels Snowmobilen herbeigetrieben, in einen Korral aus Schlitten und Seilen.

Die Rentiere recken ihre Schnuten und schauen verdutzt. Männer und Frauen drängen sich zwischen die Leiber, pflücken ihre Zugtiere heraus, schirren jeweils vier vor einen Schlitten. Und dann beginnt der Zug über die Tundra. 15 Kilometer weit. Wladimir bestimmt den Ort für das Chum, Alexey und ich machen uns nützlich, schaufeln Schnee, bis der Rücken Zeter und Mordio schreit; inmitten der freigeschippten Fläche wird der Ofen aufgestellt, die Bodenbretter werden drum herum gelegt, dann errichten wir das Stangengerippe, über das vier schwere Lagen Zeltwand aus Rentierfellen und Filz gehievt werden. Alexey ist kundig, ich lege mich ins Zeug zu verstehen, wie es geht und wie ich einerseits nicht im Weg (Touristentugend Nr. 1) und andererseits hilfreich sein kann.

Nach zwei Stunden stehen die Chums, Yasha, Alexey und ich fahren tote Bäumchen fällen und zerhacken, während eine eisige Nacht über uns herfällt. Polarlichter, Gottes höchsteigene Gardinen, nachlässig ins Firmament gewebt; ich lehne mich auf dem Snowmobil, um dessen Beherrschung ich täglich unter Alexeys Anleitung kämpfe, zurück und sehe ihnen zu. Sehe über vermeintlich maßloses Land, jeder Quadratkilometer infrage gestellt von Öl- und Gasfirmen, die es in den vergangenen Jahrhunderten bis unlängst nicht gab. Schließlich wird es zu gottverdammt kalt, und ich schere mich ins Chum.

Dies ist der Abend, an dem Praskowja, nachdem ich seit fünf Tagen Hilfe anbot, mich Kartoffeln schälen lässt, und es macht mich stolz. Danach zeigt sie mir, wie man eine Lampe baut. Später demonstriert Wladimir Alexey und mir, wie man die Rentierhaut-Lassos flicht. Wir tüfteln über Stunden verbissen daran, bis wir's begriffen haben. Denn wir müssen uns beweisen. Wladimir, Praskowja, Yasha, Egor und den anderen ist bewusst, dass wir zwar alles Mögliche machen, aber nichts Wesentliches können. Unsereins weiß nichts davon, wie man für die Rentiere sorgt, wie man ein Chum näht, ein Lasso wirft und einen Schlitten steuert. Wie sollten wir überleben in dieser Welt aus Schnee und gar nichts, unter diesem Himmel, der sich über uns stülpt mit Indifferenz, Sternen, Polarlichtern und in gnadenloser Kälte.

Was macht es mit den Leuten am Rand der Welt, wenn unsereins dort auftaucht, ist eine weitere oft und verfehlt gestellte Frage. Die Leute gehen abends, wenn die Rentiere schlafen, an ihre Smartphones; können sie ein Signal erhaschen, klönen sie mit Freunden und Familie. Tagsüber impfen sie die Tiere und nähen Ausrüstung, die tauglicher ist als das allermeiste Hightech-Gedöns, schreinern Schlitten in einer Präzision, unsere 3-D-Printer werden so was in 500 Jahren nicht können. Die Nenzen erachten es zu Recht als Privileg, bei ihnen zu Gast sein zu dürfen. Und wenn man sich sehr große Mühe gibt, wenn man sich Respekt erarbeitet, werden sie einem vielleicht beibringen, worauf es ankommt. Zunächst niedrigschwellig: Holzhacken, ein Chum errichten, ein Lasso flechten. Kartoffeln schälen. Und darüber scherzen, dass man ein bisschen mehr Mensch wird.

Schneetreiben wird sich über unseren Abschied legen, ich werde ein Lasso flechten, aber nicht werfen können. Alexey hat sein zweites und drittes Rentier gefangen, warf aber zwischendrin zumeist ins Leere. Wir haben noch viel zu lernen, bevor wir echte Menschen sind. Der Gedanke erscheint uns nicht seltsam, sondern folgerichtig. Der Schnee senkt sich wie eine zärtliche Guillotine über das Land.

Die Autorin ist Schriftstellerin. Zuletzt ist von ihr erschienen: "Die S. E. A.-Expedition. Eine antarktische Reise auf Shackletons Spuren" (Malik).

Infos

Anreise: bis Moskau von den meisten deutschen Flughäfen mit diversen Fluglinien um 200 Euro; Moskau-Salekhard mit Yamal Airlines ab ca. 320 Euro.

Homestay und Migration mit den Nenzen, für Individualreisende oder in Kleingruppen, über Alexey Tarasov, der auch andere Outdoor-Aktivitäten organisiert und sehr gutes Englisch spricht: www.arc-tur.ru/catalog/etnoen, info@arc-tur.ru. Deutschsprachige Reisen zu indigenen arktischen Völkern bietet der Ethnologe Dr. Christian Adler an: www.polar-travel.com. Für einige russische Arktisgebiete sind Sondererlaubnisse nötig, für die ausreichend Vorlaufzeit kalkuliert werden muss, die aber ebenso wie die notwendigen Visa-Unterlagen vom Veran­stalter besorgt werden.

Literatur über die Nenzen: "Siberian Survival. The Nenets and Their Story" von Andrei V. Golovnev und Gail Osherenko.

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