Dienstleistungsgesellschaft:Geiz macht arm

Paketzusteller

Viel Arbeit, aber kein Geld zum Leben: In der Dienstleistungsbranche schuften Menschen für Niedriglöhne.

(Foto: dpa)
  • Die "Dienstleistungsgesellschaft" sollte den Menschen bessere Arbeit und höhere Gehälter ermöglichen.
  • In weiten Teilen des Dienstleistungssektors schuften Menschen zu Niedriglöhnen: Paketboten, Altenpfleger, Kellner oder Verkäuferinnen bekommen weniger als vergleichbare Jobs in der Industrie.
  • Verbraucher müssen auf die Qualität achten, und Politiker müssen Befristungen, Leiharbeit und Minijobs zurückdrängen.

Essay von Alexander Hagelüken

Wie oft in der menschlichen Geschichte steht auch am Anfang dieser Vision ein Mangel. In diesem Fall: ein Mangel an Jobs. Das 20. Jahrhundert ist zur Hälfte vorbei, da registriert Jean Fourastié, dass Maschinen in den Fabriken und auf den Feldern immer mehr Arbeit übernehmen. In Industrie und Landwirtschaft, die lange dominierten, wird der Mensch weniger gebraucht, schreibt der Ökonom 1949. Er findet diesen Mangel gar nicht schlimm. Im Gegenteil: Die anbrechende "Dienstleistungsgesellschaft" beschere den Menschen weniger schmutzige und besser bezahlte Jobs, häufig mit dem Kopf statt mit den Händen wie in Fabrik und Feld. Konstruieren statt malochen. Plus Dienste für den individualisierten Konsum, den sich die Masse künftig leisten könne. Der Franzose schwärmt vom Ende "der knechtischen Arbeit" und tauft sein Werk über die Dienstleistungs-Ära "Die Chance des 20. Jahrhunderts".

70 Jahre später zeigt sich, wie präzise manche Prognose den Lauf der Geschichte trifft. Unmittelbar nach Fourastiés Veröffentlichung begann ja erst mal die goldene Zeit der Industriejobs. Von einer Servicegesellschaft konnte im Wirtschaftswunder keine Rede sein. Heute aber findet tatsächlich nur noch jeder vierte Deutsche in der Industrie Beschäftigung. Drei Viertel dagegen sind Dienstleister. Und jene besser bezahlten Kopfarbeiter, die er vorausahnte, sind überall anzutreffen. Ob Werber, Anwälte oder Psychologen, Unternehmensberater, ITler oder Youtuber: ihre Zahl stieg entweder sprunghaft - oder der Beruf entstand überhaupt erst.

Allerdings profitieren längst nicht alle von dieser Dienstleistungsgesellschaft. Bei vielen Service-Jobs bleiben die Menschen beruflich zurück. Von wegen Kopfarbeit: Was Paketboten oder Altenpfleger, Kellner oder Verkäuferinnen überwiegend mit ihren Händen leisten, ist häufig unsicher und schlecht bezahlt. "Trotz Konjunkturbooms verdienen sieben Millionen Deutsche weniger als 9,60 Euro die Stunde", sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann, "die meisten sind Dienstleister." Auch außerhalb des Niedriglohnsektors bekommen viele Servicekräfte deutlich weniger als in der guten alten Industrie. Selbst für vergleichbare Tätigkeiten. Die größte Kluft meldet die Statistik sogar zwischen zwei Servicebranchen: Banken und Versicherer zahlen im Schnitt 50 Euro Lohn plus Sozialleistungen pro Stunde - drei Mal so viel wie das Gastgewerbe. Verkäuferinnen, Paketboten und Pfleger sind ähnlich weit unten. Ihr Verdienst reicht im teuren Deutschland häufig nur zu einem Leben in Knappheit, mit der Aussicht auf eine magere Rente. Fourastiés Vision, sie reichte nur für einen halben Himmel.

Es lohnt sich, gerade jetzt nachzudenken, warum das so ist - und was sich ändern lässt. Zum einen dürfte die Ära der Digitalisierung die Unterschiede verschärfen. Zum anderen sind sie in Deutschland besonders stark: Private Dienstleister zahlen 22 Prozent niedrigere Löhne und Sozialleistungen als die Industrie. EU-weit dagegen beträgt der Abstand nur drei Prozent. Deutschland ist eine Service-Wüste, jedenfalls für die Service-Ersteller.

Wie aus Fourastiés Vorteil ein Nachteil wurde

Warum lieferte Fourastié nur einen halben Himmel? Eine Ursache ist, dass sich für viele Arbeitnehmer jedenfalls bei der Bezahlung als Nachteil erweist, was er für einen Vorteil hielt. Wer an Köche oder Pfleger denkt, versteht sein Argument: Anders als die Produktion sind Dienstleistungen personengebunden, also schlechter durch Maschinen zu ersetzen. Die Jobs sind relativ sicher. Soweit der Vorteil.

Ohne Maschinen aber lässt sich auch ihre Produktivität schwerer verbessern, ihre Leistung pro Person. Ein wesentlicher Treiber für Lohnsteigerungen wie in der Industrie fällt damit aus. Denn wenn Fabrikwerker jedes Jahr dank technischer Hilfe mehr Autos herstellen, kann die Firma ihren Lohn erhöhen, ohne dass ihre Kosten steigen. Wenn dagegen Köche nicht mehr Mahlzeiten kochen und Altenpfleger nicht mehr Alte pflegen als zuvor, steigert mehr Lohn die Kosten. Das Restaurant oder Altenheim muss die Preise erhöhen.

Der Ökonom William Baumol diagnostizierte in den 60er-Jahren eine "Kostenkrankheit" der Dienstleistungen. Die vergangenen Dekaden zeigen, wie Firmen sie bekämpfen: Statt mit höheren Preisen den Verlust von Kunden zu riskieren, halten sie einfach die Löhne niedriger als in der Industrie. Aus Fourastiés Vorteil wurde ein Lohnnachteil.

Dabei gäbe es Möglichkeiten, die Bezahlung analog zur Industrie zu verbessern. Der Koch kann zwar nicht viel mehr Mahlzeiten kochen als im Jahr zuvor, ohne die Qualität zu reduzieren. Er kann aber produktiver sein, indem er leckerer oder gesünder kocht, also die Qualität steigert - wofür der Kunde womöglich mehr zahlt. Hier aber zeigen sich Differenzen zur Industrie. Während Kunden ständig mehr für Neuwagen zahlen, die ihnen Hersteller als Premium suggerieren, zögern sie im Restaurant oder beim Friseur. Geiz ist geil - und zerstört Fourastiés Hoffnung, Konsumenten würden bereitwillig für individualisierten Konsum von Diensten zahlen.

Für bessere Löhnen müssten die Konsumenten ihr Verhalten ändern

Die Deutschen zögerten lange besonders stark, Qualität im Restaurant oder beim Friseur zu honorieren. Das dürfte eine Ursache für die im EU-Vergleich besonders große Lohnlücke zur Industrie sein. Genauso wie die traditionelle Vorliebe fürs billige Einkaufen, die Deutschland zur Hochburg der Discounter machte - die billig entlohnen, um billig zu verkaufen. Viele Dienstleister wählen bewusst "Geiz ist geil" als Strategie statt Premium. Sie lassen ihre Köche schneller kochen und ihre Pfleger kürzer pflegen. Diese Produktivitätsgewinne zulasten der Qualität sollen die Preise niedrig halten, nicht in höhere Löhne fließen.

An vielen dieser Ursachen für mäßige Löhne lässt sich etwas ändern. Wenn deutsche Konsumenten für qualitativ bessere Dienstleistungen mehr zu zahlen bereit sind, ist das der Weg zu besserer Entlohnung. Wer dadurch mehr verdient, könnte wiederum mehr für andere hochwertigere Dienstleistungen ausgeben - ein Prozess wäre angestoßen, von dem viele Arbeitnehmer profitieren könnten.

"Geiz ist geil" dagegen maximiert die Menge billigen Konsums, nicht den Genuss von Qualität - und macht die Löhne kaputt. Geiz macht arm. Deshalb ist es folgerichtig, dass die Gewerkschaft Verdi den Handelsgiganten Amazon am Black Friday bestreikt: Die 20 000 Auslieferer der Rabattschlacht werden nicht nach Handelstarifvertrag bezahlt.

Es wäre aber zu einfach, die Schuld nur auf Unternehmen zu schieben. Jene Kunden, die zu höheren Ausgaben imstande sind, können selbst die Lage der Beschäftigen verbessern: indem sie für Qualität bezahlen. Und auch die Politiker können handeln: indem sie Befristungen, Leiharbeit oder Minijobs zurückdrängen, die Dienstleistungen zu McJobs degradieren.

Viele Kunden sehnen sich nach mehr Qualität

Die Politiker sind auch im Fall sozialer Berufe gefragt. Ob Erzieherinnen Kleinkindern mehr vermitteln oder Pfleger Alte einfühlsamer behandeln, spielt bei der Lohnfindung keine große Rolle. Die Kunden mögen höhere Produktivität und Qualität schätzen. Vielleicht möchten ja deshalb Eltern Erzieher oder Alte ihre Pfleger sogar höher entlohnen. Doch sie kaufen die Leistung ja meist gar nicht direkt. Sie zahlen Steuern und Sozialbeiträge in ein staatlich/halbstaatliches System, das Erzieher und Altenpfleger nach mäßig transparenten Kriterien mäßig entlohnt. Ein weiteres Problem: Viele Kunden sehnen sich nach mehr Qualität, können wie sozial schwache Eltern oder zahlreiche Pflegebedürftige aber kaum Geld ins System einzahlen.

Am Ende kommt dabei eine lohnmäßige Geringschätzung der Arbeit am Menschen heraus. Pfleger und Erzieherinnen spüren sie ebenso wie Krankenschwestern oder Sozialpädagogen. Es ist aufschlussreich, wie mäßig diese Gruppen bezahlt werden, wohingegen gerade jene Dienstleister am besten verdienen, die sich eher um Geld statt um Menschen kümmern - Banker und Versicherer.

Die Macht der schlecht bezahlten Dienstleister

Auch diese Diskrepanz muss nicht in alle Ewigkeit hingenommen werden. Mehr und mehr Bürger können artikulieren, dass sie für hochwertige Kinderbetreuung oder Altenpflege zu zahlen bereit sind. Ansätze dazu waren beim Kita-Streik 2015 zu sehen, als den Erziehern Sympathien entgegenschlugen, die die Tarifrunde beeinflussten. Und die Politiker? Könnten den Bürgern ernsthaft die Frage vorlegen, was ihnen die Arbeit am Menschen wert ist - also an ihnen selbst.

Dass viele Dienstleister weniger verdienen als in der Industrie, liegt auch an ihrer Verhandlungsmacht. Sie ist gerade in Deutschland gering. Im Schnitt sind 14 Prozent der Dienstleister in einer Gewerkschaft. In manchen großen Industriebetrieben sind dagegen 80 Prozent der Mitarbeiter organisiert, wodurch sich entsprechende Löhne durchsetzen lassen.

Dieser Unterschied hat Gründe. Die Ursprünge der Arbeiterbewegung liegen ja in der Industrie. Und während viele Dienstleister für sich alleine werkeln, führt das gemeinsame Arbeiten in der Fabrik eher dazu, dass man sich gemeinsam in der Gewerkschaft organisiert. Auch waren Putzen, Verkaufen oder Pflegen lange traditionell Berufe für Frauen, die sich gemäß dem Rollenbild vom männlichen Ernährer nur was dazuverdienten - und deshalb erst gar nicht groß für ihre Interessen kämpften. In einer Zeit, in der grundsätzlich Männer und Frauen arbeiten gehen, werden solche Traditionen zum Ballast.

Klar ist: Nur wenn mehr Dienstleister in Gewerkschaften eintreten, steigt ihre Verhandlungsmacht. Andere Europäer begreifen das schneller. In Großbritannien, Spanien oder den Niederlanden sind prozentual sogar mehr Servicekräfte gewerkschaftlich organisiert als in der Industrie. Auch die deutsche Politik kann handeln: indem sie Tariflöhne für Firmen als verbindlich erklärt, die Tarifgespräche verweigern.

Zu handeln ist es höchste Zeit. Die Digitalisierung wird das Dienstleistungsdilemma verschärfen. Maschinen ersetzen verhältnismäßig gut bezahlte Routinejobs in der Verwaltung, während die Niedriglohn-Armee der Paketboten, Putzleute und Pfleger weiter wächst. Es liegt an den Bürgern, ob sie als Konsumenten und Wähler verhindern, dass sich die Unterschiede in der Gesellschaft noch vergrößern - oder ob sich Fourastiés Vision doch noch für mehr Arbeitnehmer bewahrheitet als heute.

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