Schule:Schule fürs Leben - ganz ohne Lehrer

Schule: Bewährungsprobe im Ausland: Die Neuntklässler Niklas Mende (vorne), Paul Daamen und Gian-Luca Mattern arbeiteten zweieinhalb Wochen auf einem Campingplatz in den Niederlanden.

Bewährungsprobe im Ausland: Die Neuntklässler Niklas Mende (vorne), Paul Daamen und Gian-Luca Mattern arbeiteten zweieinhalb Wochen auf einem Campingplatz in den Niederlanden.

(Foto: Privat)

An immer mehr Schulen bekommen Jugendliche Gelegenheit, sich einer persönlichen Herausforderung zu stellen. Eine besondere Erfahrung - auch für viele Eltern.

Von Fabian Busch

Am zweiten Schultag nach den Sommerferien reisten Niklas Mende, Paul Daamen und Gian-Luca Mattern schon wieder in die Ferne. Sie stiegen morgens im südwestfälischen Siegen in den Zug, um in neun Stunden an die niederländische Küste zu fahren. Danach radelten sie drei Stunden bis zu einem Campingplatz, auf dem sie zweieinhalb Wochen lang arbeiten würden. Das Gepäck wog 30 Kilo pro Person. Und dazu kam noch der Respekt vor dem, was vor ihnen lag.

Herausforderung heißt das Schulprojekt, mit dem das Evangelische Gymnasium Siegen-Weidenau seine Neuntklässler ins Leben wirft. Sie bekommen 18 freie Tage und 150 Euro Kapital, um außerhalb der Schule ihre Grenzen zu testen und sich zu beweisen. Mit 14 oder 15 Jahren müssen sie eine Reise wagen oder sich ein aufwendiges Projekt vornehmen, müssen alles selbst planen, dabei auch Rückschläge einstecken. "Im Unterricht können wir das so nicht leisten: Dass sie mal aus der Schule rauskommen, einen Prozess einleiten und begleiten müssen", erklärt die Schulleiterin Beate Brinkmann. Die Schule begegne Jugendlichen in der Pubertät häufig nur mit Druck. "Die Herausforderung bietet uns die Möglichkeit, auch ihrem Freiheitsdrang entgegenzukommen."

Welcher Bewährungsprobe sie sich stellen möchten, entscheiden die Schüler selbst. Manche brauchen dabei ein bisschen Hilfe. Ein halbes Schuljahr lang können sie planen, Unterkünfte organisieren, alles durchrechnen. Mit 150 Euro müssen sie in den zweieinhalb Wochen auskommen. "Mit einem Vier-Sterne-Hotel ist da nichts", sagt Lehrer Torsten Heupel, der das Projekt betreut. "Sie müssen Wege suchen, wie sie das hinbekommen."

Deswegen beschlossen Niklas Mende und seine Mitschüler, dass sie auf dem niederländischen Campingplatz arbeiten. Sie mähten dort den Rasen, pumpten Regenpfützen leer, halfen beim Stutzen der Hecken. Ungewohnt waren nicht nur die eintönige körperliche Arbeit, die fremde Sprache, die lange Zeit ohne die Familie. Plötzlich mussten sie auch ihren Tag selbst organisieren. "Ich war es gewohnt, dass ich zu Hause geweckt werde und mittags das Essen auf dem Tisch steht", erzählt Niklas Mende. Auf dem Campingplatz mussten die Schüler selbst für ihre Verpflegung sorgen. Abends landeten abwechselnd Reis mit Fleisch und Nudeln mit Fleisch auf den Tellern. "Das war ganz schön langweilig."

Kloster und Altenheim

Die meisten Teilnehmer entscheiden sich, ihre Prüfung zu zweit oder dritt zu meistern. Marit Lorenz und Jessica Born zum Beispiel konnten sich gut vorstellen, dass Verzicht und eiserne Disziplin Herausforderungen für sie sein würden. Also fuhren sie nach München, wo sie 18 Tage im Benediktinerinnen-Kloster verbrachten. Ohne Fernsehen, ohne Internet. Sie mussten früh aufstehen, viel beten, putzen, in der Küche helfen.

Florian Daub und Johannes Bender zog es an die Ostsee. In Timmendorfer Strand machten sie ein Praktikum in einem Altenheim, halfen den Bewohnern beim Anziehen, den Pflegern beim Bettenmachen. Keine alltäglichen Erfahrungen für Jungen in dem Alter. Am vorletzten Arbeitstag beugte sich eine blinde Bewohnerin zu Florian Daub und sagte weinend, dass sie gerne sterben würde. Ein Moment, den er so schnell nicht vergessen wird. "Für uns war es neu, so direkt mit dem Tod in Berührung zu kommen."

Der Fantasie sind bei der Herausforderung kaum Grenzen gesetzt

Bisher war die Herausforderung am Evangelischen Gymnasium Teil eines Differenzierungskurses, den die Schüler freiwillig besuchen konnten. Zum laufenden Schuljahr hat das Gymnasium sie aber in den Lehrplan aufgenommen: Jeder Neuntklässler muss künftig mitmachen. Beate Brinkmann verschweigt nicht, dass dieser Schritt auch auf Vorbehalte stieß, in der Schulkonferenz gab es "heftige Diskussionen". Denn eine Herausforderung ist das Projekt auch für Lehrer und Eltern.

Die Pädagogen befürchteten, dass die Jugendlichen zu viel Lernstoff verpassen. Und unter den Müttern und Vätern waren einige, denen der Gedanke gar nicht gefiel, das 14- oder 15-jährige Kind alleine durch Deutschland oder ins Ausland zu schicken. "Für uns ist auch spannend, was das Projekt in den Familien auslöst. Vielen Eltern fällt es schwer, die Kinder in diesem Alter einfach mal loszulassen und ihnen zu vertrauen", sagt Brinkmann. Die Schulleiterin spricht aus eigener Erfahrung: Auch ihr Sohn hat bei der Herausforderung mitgemacht. Er reiste nach Berlin - als er sich tagelang nicht meldete, rief Brinkmann besorgt auf seinem Handy an. Es war natürlich alles in Ordnung.

Der Fantasie sind bei der Herausforderung eigentlich keine Grenzen gesetzt. Und auch in die Ferne schweifen muss nicht jeder. In den vergangenen Jahren haben Jugendliche des Siegener Gymnasiums auch ein Buch oder Lieder geschrieben. Eine Gruppe baute eine Seifenkiste und nahm am ältesten deutschen Seifenkistenrennen in Oberursel teil. Da die 150 Euro nicht für das Material reichten, mussten sie Sponsoren suchen. Ein anderer Schüler verbrachte seine Zeit in einer Berghütte im Tessin, unter lauter Aussteigern. Wenn die Jugendlichen längere Zeit umherreisen müssen oder am Zielort keinen festen Ansprechpartner haben, stellt die Schule übrigens einen erwachsenen Begleiter. Den zu finden, falle gar nicht immer leicht, sagt Beate Brinkmann. Die Schule versucht zum Beispiel, Studenten der Siegener Universität dafür zu gewinnen.

Das Kollegium des Evangelischen Gymnasiums hat das Projekt nicht selbst erfunden. Die Lehrer stießen auf die Idee, als sie die Evangelische Schule Berlin Zentrum besuchten, wo die Jugendlichen sogar drei Herausforderungen absolvieren müssen. Einige Schulen in Deutschland haben das Konzept inzwischen übernommen. Der Erziehungswissenschaftler Matthias Rürup vom Institut für Bildungsforschung der Bergischen Universität Wuppertal weiß von rund 40 deutschen Schulen, die es anbieten. Es könnten aber deutlich mehr sein, nicht immer trägt das Projekt den gleichen Namen, an manchen Schulen heißt es "Challenges" oder "Entschulung". Auf eine Schulart ist es nicht konzentriert, es steht auch in keinem Bundesland in einem verbindlichen Lehrplan. Rürup würde das ohnehin für falsch halten. "Der Kerngedanke ist, dass es sich um ein Angebot der Schule handelt. Und das Gelingen ist sehr abhängig vom Kollegium, von den Eltern und einer wohlwollenden Schulaufsicht."

Rürup arbeitet gerade daran, sich mit anderen Wissenschaftlern zu vernetzen und Forschungsergebnisse zum Thema zusammenzutragen. Verlässliche Fakten zu den Auswirkungen des Projekts gibt es noch nicht. Aber es sei in jedem Fall eine "Bereicherung und Ergänzung" des Unterrichts. "Was die Eigenverantwortung und die Persönlichkeitsentwicklung angeht, löst die Herausforderung ihre Versprechen ein." Skeptischer ist der Wissenschaftler bei der Rückwirkung auf das schulische Verhalten: Ob die Schüler danach auch motivierter im Unterricht sitzen, lasse sich nur schwer beurteilen. Wobei das zumindest am Evangelischen Gymnasium auch gar nicht so sehr im Vordergrund steht.

Die 150 Euro müssen die Eltern dort selbst aufbringen. Wenn das in einer Familie nicht möglich ist, sucht die Schule nach Möglichkeiten zur Unterstützung. Beate Brinkmann und Torsten Heupel haben keine Zweifel, dass das Geld gut investiert ist. Und fragt man die Teilnehmer, was sie mitgenommen haben aus ihrer Bewährungsprobe, dann fangen viele Antworten mit "selbst" an: Selbstständigkeit habe er üben müssen, sagt Niklas Mende. Marit Lorenz ist mit "mehr Selbstvertrauen" aus München zurückgekommen. Und auch Johannes Bender fühlt sich "selbstbewusster" nach seiner Zeit in Timmendorfer Strand. Er wird mit seinem Mitschüler auch den Jahreswechsel dort verbringen. Die Menschen im Altenheim wollen sie dann auch wieder besuchen.

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