Rechtsstaatlichkeit:Das Fundament der EU ist bedroht

Viktor Orban

Viktor Orbán tritt die Werte der EU mit Füßen, Ähnliches passiert in Polen.

(Foto: dpa)

Ungarn, Polen und Rumänien verstoßen hartnäckig gegen die Grundwerte der EU und gefährden so deren Zusammenhalt und Wohlstand. Es ist höchste Zeit, sie dort zu treffen, wo es wirkt: beim Geld.

Kommentar von Matthias Kolb, Brüssel

Der Satz ist nicht der eleganteste, aber die Botschaft ist klar. Seit 1992 steht in Artikel 2 des EU-Vertrags: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören." Das Ziel, alle vor dem Gesetz gleich zu behandeln und auch die Mächtigen aus Politik und Wirtschaft durch unabhängige Richter zu kontrollieren, machte die EU nach dem Zerfall der Sowjetunion attraktiv für Mittel- und Osteuropa; daher wünschen heute progressive Kräfte der Ukraine und vom Westbalkan einen Beitritt.

Doch leider bleibt die EU hinter ihren Ansprüchen zurück. An diesem Dienstag diskutieren die 28 Europaminister über die Rechtsstaatlichkeit in Polen und die Achtung der Werte der EU in Ungarn. Gegen beide Länder laufen sogenannte Artikel-7-Verfahren - wegen "schwerwiegender Verstöße". Dass diese Debatte nötig ist, bedrückt. Dass es fast schon als Erfolg gelten muss, das Thema überhaupt auf die Tagesordnung gebracht zu haben, ist eine Schande. Länder wie Belgien, die Niederlande, Deutschland und die Skandinavier haben recht, hier hartnäckig zu sein. Sie dürfen keinen Moment nachlassen. Denn auf dem Fundament Rechtsstaatlichkeit steht das Projekt EU. Niemand in Wiesbaden und Bordeaux darf ignorieren, was in Warschau und Budapest passiert: Die zersetzenden Folgen des Treibens von Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán kennen keine Grenzen.

Rechtsstaatlichkeit betrifft jeden Bürger. Sie garantiert, dass der Rechtsweg offensteht; ohne sie ist der Kampf gegen Korruption aussichtslos. Wenn, wie in Polen, Richtern verboten werden soll, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anzurufen, wankt das gesamte Rechtsgebäude. Für die Wirtschaft gilt: Der Binnenmarkt funktioniert nur, wenn Unternehmen sich darauf verlassen können, dass EU-weit unabhängige Gerichte existieren, die die Sicherheit ihrer Investitionen garantieren.

Nicht nur wegen der Europawahl ist es richtig, diese Diskussion auf allen Ebenen zu führen und sich nicht vom Brexit ablenken zu lassen. Die besorgniserregenden Fälle mehren sich: In Rumänien plant die sozialdemokratische Regierung, Korruption zu legalisieren, und in Malta klappt die Gewaltenteilung kaum. Die Klagen aus Polen und Ungarn, sie würden von der EU-Kommission wie "Mitglieder zweiter Klasse" behandelt, weil sie aus Osteuropa stammten, sind haltlos. All jene, die wie der zuständige Vizechef der Kommission, Frans Timmermans, auf die Einhaltung der Regeln pochen, haben die Argumente auf ihrer Seite. Denn vor ihrem Beitritt haben sich alle EU-Staaten auf diese Werte verpflichtet. Spätere Nachlässigkeit ist inakzeptabel. Für die Unabhängigkeit der Gerichte gilt das Gleiche wie für die Unabhängigkeit der Medien: Hier zählen keine angeblichen kulturellen Unterschiede, sondern klare, messbare Kriterien.

Dieser Faktor macht den Vorschlag von Günther Oettinger so überzeugend: Der Haushaltskommissar möchte das EU-Budget für die Jahre 2021 bis 2027 so gestalten, dass die Auszahlung der milliardenschweren Fördergelder an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft wird. Konditionalität heißt diese Idee. Sie kann den Bürgern in Nettozahlerländern wie Deutschland oder Schweden signalisieren, dass ihre Beiträge nicht in korrupten Kanälen versickern. Und sie wäre aus dem gleichen Grund wirksam wie die Urteile des EuGH: Es geht um sehr viel Geld.

Dem aktuellen Mechanismus fehlt jedoch dieser wirksame Hebel. Das Artikel-7-Verfahren wird erst gestartet, wenn es eigentlich zu spät ist. Die härteste Sanktion ist der Einzug des Stimmrechts, doch dafür müssen sich alle übrigen Staaten einig sein. Wenn sich - wie derzeit - Polen und Ungarn verbünden, verpufft die Wirkung. Dass es kaum Fortschritte gibt, frustriert West- und Nordeuropäer nicht nur aus Angst vor Nachahmern. Die Verfahren vertiefen den Graben zwischen Ost und West und beeinflussen das Arbeitsklima in der EU: "Vergiftet" ist das Wort, das in Brüssel am häufigsten dazu fällt.

Einen simplen Ausweg gibt es nicht. Die Staats- und Regierungschefs müssen die unangenehmen Debatten führen und den abdriftenden Regierungen klarmachen, dass ihr Verhalten allen schadet, den Wohlstand bedroht und die EU als globalen Akteur schwächt. Wie soll Europa glaubhaft für eine regelbasierte Ordnung werben, wenn im Inneren diese Regeln gebrochen werden? Und Rivalen wie China wissen genau, wie man solche Schwachstellen nutzt, um sich Einfluss zu sichern.

Deutschland kommt eine Schlüsselrolle zu, denn die größte Volkswirtschaft der EU hat in Budgetfragen viel Einfluss. Der Zufall will es, dass Berlin im Herbst 2020 die Ratspräsidentschaft innehat, wenn aller Voraussicht nach der nächste Haushalt beschlossen wird. Die Rechtsstaatlichkeit in Europa mithilfe der Konditionalität zu verteidigen, sollte dabei höchste Priorität haben. Hier geht es um den Kern der EU.

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Leserdiskussion
:Konditionalität: Der richtige Weg für die EU?

EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger schlägt vor: Das Budget für die Jahre 2021 bis 2027 soll so gestaltet werden, dass die Auszahlung der Fördergelder an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft wird. Ungarn, Polen und Rumänien würde das hart treffen.

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