Theaterfestival "Rampenlichter":Auf der Suche nach besonderen Lebensgeschichten

Theaterfestival "Rampenlichter": Unter einem Tuch schlüpfen die Teilnehmer von „Generation Europe“ hervor.

Unter einem Tuch schlüpfen die Teilnehmer von „Generation Europe“ hervor.

(Foto: Stephan Rumpf)

Was haben die Verbrechen der Nazis mit der "Baustelle Europa" zu tun? Beim Theaterfestival "Rampenlichter" bringen Münchner Schüler beide Themen auf die Bühne.

Von Barbara Hordych

Josepha steht vor einem großen weißen Quadrat, das ein Beamer an die Wand der Halle wirft. Am Rand sitzt Wienke und trägt vor: "Ich war an dem Tag zufällig zu Hause, mit einer Erkältung. Da hörte ich Geräusche an der Haustür." Sie hält inne. Zwei weitere Jugendliche zeichnen mit schwarzen Strichen ein Haus mit einer Tür auf eine Folie, beides wird nun um Josephas Silhouette herum ebenfalls an die Wand projiziert. Wienke fährt fort: "Vor dem Badezimmer habe ich die blutigen Kleider meines Vaters gesehen." Die gesamte Folie - und damit auch die Wand - färbt sich Rot.

Die Schüler beschäftigen sich mit den Aufzeichnungen von Beate Siegel. Die war an jenem 10. März 1933, um den es geht, acht Jahre alt. "Die SS hat Beas Vater, den jüdischen Anwalt Michael Siegel, verprügelt, ihm die Hosen abgeschnitten und ihn barfuß durch die Innenstadt getrieben. Weil er eine Anzeige machen wollte", erzählt Silas nach dem Ende der Probe. Im NS-Dokumentationszentrum habe er ein Bild gesehen, das Michael Siegel zeige, mit einem Schild, das die SS ihm umhängte: "Ich werde mich nie wieder bei der Polizei beschweren". Dieses Bild hat die Schüler nicht mehr losgelassen.

Die Szene, die sie proben, gehört zu dem Stück "If you don't know ... now you do". Acht Schüler vom Wilhelm-Hausenstein-Gymnasium und von der Willy-Brandt-Gesamtschule, 14 und 15 Jahre alt, studieren es derzeit auf dem Gelände des Kreativquartiers ein. Die Produktion entsteht in Kooperation mit dem Verein Spielen in der Stadt und dem NS-Dokumentationszentrum. Sie wird beim internationalen Tanz- und Theaterfestival "Rampenlichter" vom 5. bis 18. Juli Premiere haben. Der Vorverkauf hat gerade begonnen.

"If you don't know" ist das Nachfolgeprojekt von "Stranger than", für das die Regisseurin Annette Geller und Choreografin Dorothee Janssen 2018 von der Bundesregierung mit dem "BKM-Preis Kulturelle Bildung" ausgezeichnet wurden. Erneut arbeiten beide nun mit dem NS-Dokumentationszentrum zusammen. "Anhand von Beas Schicksal hat sich die Gruppe auch mit den Kindertransporten beschäftigt, die ihr wie vielen anderen das Leben rettete", erzählt Annette Geller.

Wie behalten wir unsere Menschlichkeit, wann geben wir sie auf? Wer weiß, wie wir Menschen entgegentreten sollen, die die Lebensumstände anderer Menschen missachten oder gar leugnen? Auf der Suche danach, was den Menschen zum menschlichen Wesen macht, trifft sich die Gruppe seit Februar zweimal im Monat für Proben auf dem Gelände des Kreativquartiers. Parallel dazu geht es immer wieder für Recherchen zum Thema Nationalsozialismus ins NS-Dokumentationszentrum und in Gedenkstätten. Die Schüler haben Biografien bearbeitet, Zeitzeugen befragt, Schicksale beleuchtet. Solche, die sie besonders berührt haben, wie die von Beate und Michael Siegel, setzten sie in szenischen Fragmenten für die Bühne um.

Am kommenden Montag wird den ganzen Tag geprobt, von 10 bis 18 Uhr. "Da fallen bei mir gleich vier Hauptfächer aus!", ruft die Neuntklässlerin Josepha. Erst klingt es erfreut, dann gerät sie ins Grübeln. "Aber das kriege ich schon hin", beruhigt sie selbstbewusst die beiden Leiterinnen - und auch ein wenig sich selbst. Während des Festivals im Juli sind die Ensemblemitglieder "Artists in residence", das heißt, sie haben zwei Wochen lang die Möglichkeit, intensiv auf dem Festivalgelände zu proben, bevor sie dann am Mittwoch, 17. Juli, um 19 Uhr auf der Bühne ihre Ergebnisse vorstellen.

Ein sehr persönlicher Blick auf Europa und München

Mehr in die Zukunft richtet sich die andere Münchner Gruppe, die sich seit Anfang dieses Jahres wöchentlich im Pädagogischen Institut in der Herrnstraße trifft. Wie ist der Blick auf Europa von Menschen, die neu nach Europa kommen, um hier zu leben, und denen, die hier geboren sind? Am Anfang der Proben zu "Europe where/who are you?", stecken sie gemeinsam unter einer weißen Decke, aus der sie nun einzeln hervorschlüpfen: Aus insgesamt zehn verschiedenen Ländern stammen die vier Mädchen und sechs Jungen zwischen 15 und 18 Jahren, die sechs verschiedenen Religionen angehören.

Die einen kommen von weit her, wie der 17-jährige Charles aus Sierra Leone, andere waren schon immer hier, wie die 16-jährige Münchnerin Lena. Sie sagt: "Ich musste mein Zuhause nie verlassen. Ich musste mich nie an einen neuen Ort gewöhnen." Damit ist sie die Ausnahme. Die dokumentarische Performance mit selbst verfassten Texten und Improvisationen wirft einen sehr persönlichen Blick auf Europa und München, ausgehend von den Lebensgeschichten der Jugendlichen.

Geleitet wird die Gruppe, die Teil des europaweiten Begegnungsprojekts "Generation Europe" ist, von Lena Scholle vom Verein "Sprachbewegung". "Ähnlich wie bei 'Friday for Future' ist das Ziel der Auseinandersetzung mit Menschenrechten, Rassismus und Demokratie, politisch tatsächlich etwas zu verändern - im lokalen Umfeld, aber auch auf europäischer Ebene mit unseren Partnerschaften in Spanien und Polen", sagt Scholle.

Was jetzt noch eher theoretisch klingt, soll später auf der Bühne, gemeinsam mit den Zuschauern übrigens, ganz praktisch als "Baustelle Europa", umgesetzt werden. Mit Pinsel und Farbe kann dann jeder seine Visionen für Europa auf Transparente schreiben.

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