Merkel in Harvard:Eine Rede wie ein politisches Vermächtnis

Bundeskanzlerin Merkel spricht an der Universität Harvard, und vieles könnte man als Spitzen gegen Trump lesen. Aber das ginge am Thema vorbei. Ihr geht es um das wirklich Große und Ganze.

Von Christian Zaschke, Cambridge

Wenn US-Präsident Donald Trump am Freitagmorgen in Washington erwacht, ist Bundeskanzlerin Angela Merkel schon wieder in Berlin. Kurz nur weilte sie in den Vereinigten Staaten, von Mittwochnachmittag bis Donnerstagnachmittag, und obwohl sie Trump nicht getroffen hat, dürfte sie einigen Eindruck in Washington hinterlassen haben. Vielleicht nicht bei Trump selbst, der weitenteils immun ist gegen die Zumutungen der Welt und sich von niemandem etwas sagen lässt, schon gar nicht von einer Frau. Aber womöglich doch bei den denkenden Kreisen des politischen Establishments in Amerikas Hauptstadt, ganz gleich, ob diese Kreise sich demokratisch oder republikanisch definieren.

Das liegt daran, dass Merkel am Donnerstag an der Universität Harvard bei Boston eine Rede gehalten hat, die ihre Biografen vermutlich dereinst als eine Art politisches Vermächtnis interpretieren werden. Gut möglich, dass sie in den kommenden, den verbleibenden Jahren ihrer Amtszeit noch mehr solcher Reden hält. Aber vielleicht bleibt diese Rede auch die einzige ihrer Art, denn die Szenerie war einmalig, die Umstände unvergleichlich.

Merkel war von Harvard, einer der renommiertesten Universitäten der Welt, eingeladen worden, um eine Rede vor den Absolventen des Jahrgangs 2019 zu halten. Es gab allerlei Brimborium drumherum, zum Beispiel wurde ihr eine Ehrendoktorwürde verliehen, was sie sichtlich erfreute. Sie ist Naturwissenschaftlerin, sie hat den akademischen Betrieb immer gemocht und auf vielen ihrer Dienstreisen dafür Sorge getragen, dass sie auch die wichtigen Universitäten an ihren Reisezielen besuchte. Aber von Harvard ausgezeichnet zu werden, das ist eben noch einmal einen Tick wunderbarer. Merkel ist bekannt als Pragmatikerin, doch für das vermeintlich im - selten dämliches Wort - Elfenbeinturm wohnende akademische Milieu hatte sie und hat sie mehr als eine Schwäche. Sie glaubt, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, an die Kraft der Wissenschaft als eine Kraft der Weltverbesserung.

Eine Rede in Harvard. Die Universität hatte sie in den Wochen, vor allem in den Tagen vor dem Auftritt am Donnerstag gefeiert wie einen Rockstar. Angela Merkel, diesen Eindruck musste man zuletzt gewinnen, ist in Teilen der USA vielleicht doch ein noch etwas größerer deutscher Export als der stoische Basketballer Dirk Nowitzki, dem in Amerika auf seiner Abschiedstournee die Hallen zujubelten, oder die, wertfrei gesagt, seltsame Band Rammstein, der in Amerika die Stadien zujubeln.

Aber gut. Harvard. Sie wissen dort, dass sie eines der intellektuellen Zentren der Welt sind, und sie wussten vermutlich, dass es für die in Ostdeutschland aufgewachsene Merkel eine besondere Freude sein würde, an diesem heiligen Ort der westlichen Wissenschaft zu sprechen.

Eine Rede in Harvard. Manche vermuteten, Merkel könnte eine transatlantische Grundsatzerklärung abgeben. Andere spekulierten, sie könnte, fernab von Washington, geschützt vom Kordon der Akademie, eine Abrechnung mit Trump präsentieren. Im Grunde war beides immer unwahrscheinlich. Ist Merkel nicht auch Merkel, weil sie berechenbar ist?

Was sie getan hat, war dann doch überraschend: Sie hielt eine Rede, in der sie über die Grundsätze allen politischen Handelns sprach, über das, was getan werden kann, was getan werden sollte und was getan werden muss. Das konnte man zum Teil als Spitzen gegen Trump interpretieren, und das wird nun auch allenthalben passieren. Man solle nicht immer nur aus dem Affekt heraus handeln, sondern auch einmal innehalten, sagte sie. Sie rief zur "Wahrhaftigkeit gegenüber anderen und uns selbst" auf; dazu gehöre, "dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen". Natürlich wird das als Spitze gegen den Präsidenten gewertet. Protektionismus und Handelskonflikte gefährdeten unseren Wohlstand, verkündete sie. Auch das ist als Aussage gegen Trump lesbar. Aber darum ging es in dieser Rede nicht. Sie auf Spitzen gegen Trump zu lesen, geht am Thema vorbei.

Etwas verknappt gesagt, hat Merkel eine Rede gehalten, die so grundsätzlich war, dass sie Trump zu verstehen gab: Sie, werter Herr Präsident, sind im großen Lauf der Zeiten und der Dinge nicht wichtig genug, um Sie hier, in diesem Rahmen, an diesem schönen, nicht zu warmen und zum Glück regenfreien Tag zu erwähnen.

In der Präsentation, das schon, war es eine typische Merkel-Rede, spröde vorgetragen, hier und da nicht vollkommen unwitzig, aber meist ernst und zur Sache. Inhaltlich aber war es eine ungewöhnliche Rede, weil die Kanzlerin nicht nur über die intellektuellen Grundlagen ihres Handelns sprach, sondern auch über die biografischen, und zwar in einer Weise, die bisweilen ins Metaphysische reichte. Merkel wollte in ihrer Rede in Harvard über das wirklich Große und Ganze sprechen. Wenn man so will: über die letzten Dinge. Was einerseits passend erscheint für eine Politikerin, die auf die Zielgerade ihrer Karriere eingebogen ist, und andererseits doch überrascht. Weil es eben Merkel ist.

Man sollte wissen, um das Drumherum zu verstehen, dass Harvard dieses Spektakel jedes Jahr aufführt. Die Uni feiert sich selbst, sie ist berauscht von ihrer Bedeutung, ihrem Rang, ihrer Strahlkraft. Die deutsche Bundeskanzlerin als Sprecherin zu gewinnen für die aktuellen Absolventen - das wäre kaum einer, womöglich keiner anderen Uni auf der Welt gelungen. Es war jedoch ein Arrangement, das beiden Seiten diente. Merkel wird noch viele Ehrendoktorwürden erhalten, wenn sie einmal nicht mehr Politikerin ist. Die von Harvard noch während der aktiven Zeit einsammeln zu können, nicht als eine Art späte Gnade, das ist aus ihrer Sicht vermutlich schon einmal ganz erfreulich. Harvard wiederum fühlte sich über die Maßen geschmückt vom Besuch Merkels. Grundsätzlich schienen die akademische Institution und die Kanzlerin der Meinung zu sein, am gleichen Strang zu ziehen.

Dann klang es nach AC/DC und die Kanzlerin wurde tatsächlich metaphysisch

Eine Rede in Harvard. An diesem Donnerstag hatten sich nicht nur die Absolventen des Jahrgangs 2019 eingefunden, sondern, wie das so üblich ist, viele, sehr viele Ehemalige. Die Ehemaligen sitzen übrigens bei diesen Veranstaltungen vorne, während die jungen Absolventen ungefähr zwei Kilometer weiter hinten einen Platz finden müssen. Das ist nur ein wenig übertrieben. Während Merkels Rede tummelten sich rund 30 000 Menschen auf dem Gelände der Universität. Das Ganze wirkte zum Teil mehr als Rockkonzert für diejenigen, die auch schon in den Sechzigerjahren keine Rocker waren, denn als Feier der Absolventen.

Als die Kanzlerin gemeinsam mit den örtlichen Honoratioren die Bühne betrat, erklangen Glockenschläge. Das ist in Harvard so üblich, die Glocke leitet die Veranstaltung ein, die Glocke beendet sie. Es klang, wie Konzerte der australischen Rockband AC/DC eine Zeitlang begonnen haben: Glockenschläge, bevor der Song "Hells Bells" ertönt. Merkel ist so unfassbar wenig AC/DC, es erscheint mehr als möglich, dass sie von dieser Band noch nie etwas gehört hat. Und doch schien dieser Moment in großem Pathos davon zu künden, dass es nun um die großen, vielleicht sogar gerade jetzt: um die fetten Akkorde geht.

Als der Song "Hells Bells" erschien, 1980, waren AC/DC eine Band im Umbruch. Sie hatten ihren Sänger Bon Scott verloren, der sich zu Tode gesoffen hatte. Das Lied war ein Tribut an ihn, gesungen vom neuen Frontmann, Brian Johnson. Das Alte war tot, das Neue sollte leben. Das sagte der Song. Man darf das nun auf keinen Fall zu weit treiben. Aber faszinierenderweise hat Angela Merkel selbst den Kreislauf von Tod und Leben zu einem Teil ihrer Rede in Harvard gemacht.

"Es gibt keinen Anfang ohne Ende", rief sie den Studenten in Harvard zu. "Es gibt keinen Tag ohne die Nacht." Und weiter: "Es gibt kein Leben ohne den Tod." So hört man Merkel nun wirklich nicht oft.

Dann wurde die Kanzlerin tatsächlich metaphysisch. Sie beschrieb, dass alles Leben sich in diesem Kreislauf von Sein und Vergehen und Werden bewege. Vom Beginnen, wie sie sagte, und Beenden. Das klang weniger wie ein Vermächtnis, das klang wie eine Erkenntnis, von der sie beschlossen hatte, dass diese zu wichtig sei, um sie nicht mit den Studenten im Publikum zu teilen. Oder auch mit dem Publikum, das anderswo zuhörte. In Berlin. In Washington.

Es war der Moment, in dem die Naturwissenschaftlerin Angela Merkel sich auch öffentlich als metaphysische Person zeigte. Sie präsentierte sich, und das schien ihr wichtig zu sein, als zumindest auch in Teilen spirituelles Wesen. An diesem Tag in Harvard konnte man den Eindruck gewinnen, dass die in Hamburg geborene und im Brandenburgischen aufgewachsene Merkel, deren Lebensglück die Wiedervereinigung war, den Studenten eine Art west-östlichen Diwan an die Hand geben wollte.

Eine Rede in Harvard. 30 000 Menschen, schweigend, lauschend. Sie sagte: "Lasst uns die Mauern der Ignoranz einreißen." Sie sagte: "Lasst uns die Dinge gemeinsam angehen. Lasst uns das Richtige tun, und vergessen wir nicht, dass unsere Freiheit nicht selbstverständlich ist." Der Applaus wurde lauter, jeder dieser Sätze klang wie der letzte. "Wir sollten uns damit überraschen, was möglich ist", sagte Merkel, "und vergessen Sie nicht, etwas Neues zu beginnen, ist immer ein Risiko. Das Alte gehen zu lassen, ist die Voraussetzung für das Neue." Merkel sagte das sehr merkelig, aber man merkte ihr dennoch an, dass ihr das wichtig war. Sie endete, in größtmöglichem Ernst, in der größtmöglichen Plattitüde: "Alles ist möglich", sagte sie. Harvard applaudierte begeistert.

Alles ist möglich? So ähnlich hatten es auch ein japanischer Autobauer ("Nichts ist unmöööööglich") und eine deutsche Turnschuhfirma ("Impossible is nothing") schon einmal als Werbeslogans formuliert, und vielleicht bleiben Aussagen dieser Art immer exakt das: Slogans. Aber dennoch schien es in diesem Moment, an diesem nicht zu warmen, regenfreien Tag in Harvard so zu sein, als habe Angela Merkel, als sie da auf der Bühne stand, vor 30 000 Menschen und gut 700 Kilometer vom Weißen Haus entfernt, eine der wichtigeren Reden ihres Lebens gehalten.

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