Interview mit Werber Amir Kassaei:"Wir haben zu viel heiße Luft verkauft"

Er gilt als Enfant terrible der Marketingbranche: Amir Kassaei über den Untergang der Werbung, seine Forderung nach Kreativen in Unternehmensvorständen - und seine Erfahrungen als Kindersoldat.

Angelika Slavik

Wo er ist, gibt's Krach: Seit Januar ist Amir Kassaei der beste Kreative der Welt, findet zumindest die New Yorker Branchenbibel The Big Won - und der gebürtige Iraner ist nicht der Typ, der sich gegen diese Bezeichnung wehren würde. Mit seiner Werbeagentur DDB betreut er Kunden wie Volkswagen, McDonald's oder Reebok. Radikal in Ansichten und Sprache mutet Kassaei seinen Kollegen einiges zu: Nicht die Banker, die Werber seien schuld an der Krise, sagt er. Denn die hätten zum sinnlosen Konsum angestiftet. Zum Gespräch in einem Münchner Innenstadt-Café chauffiert ihn ein Freund: Auto fahren kann Kassaei nicht.

Amir Kassaei

Amir Kassaei: "Ob ich eitel bin? Da haben Sie recht. Wer ist denn nicht eitel?"

(Foto: DDB)

SZ: Herr Kassaei, Volkswagen ist der vielleicht wichtigste Kunde Ihrer Werbeagentur DDB - sollten Sie da nicht wenigstens einen Führerschein haben?

Amir Kassaei: Als ich jung war, hatte ich kein Geld dafür, später hatte ich keine Zeit. Aber wenn man genügend Vorstellungskraft hat, dann ist das kein Problem. Das funktioniert. Ziemlich gut sogar.

SZ: Weil es beim Verkaufen ohnehin nur auf die richtige Verpackung ankommt?

Kassaei: Früher war das so, aber das ist vorbei. Durch die Digitalisierung wissen die Menschen heute viel mehr als früher über die Produkte, die ihnen angeboten werden. Man kann die Kunden heute nicht mehr verarschen. Ein schlechtes Produkt hat es heute viel schwerer, einen Markt zu finden. Und das ist auch gut so.

SZ: Aus Sicht des Werbers müssten Sie das doch eigentlich schlecht finden.

Kassaei: Nein, denn das System funktioniert nicht mehr, wie die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt. Wir schimpfen immer alle auf die Banker, aber die Wahrheit ist: Die Marketing-Leute haben die viel größere Verantwortung. Denn die Wurzel dieser Krise liegt ja eigentlich im Konsum: Wer hat denn jahrelang den Amerikanern erzählt, dass sie sich über Konsum definieren sollen? Genau, wir waren es. Also sind wir mindestens mitschuldig, nicht nur Lehman Brothers oder Goldman Sachs.

SZ: Sie wirken nicht, als hätten Sie ein schlechtes Gewissen.

Kassaei: Nein, aber darum geht es auch gar nicht. Ein Grund dafür, dass das System nicht funktioniert, ist, dass wir zu viel heiße Luft verkauft haben. Die meisten Unternehmen haben aufgehört, langfristig über sinnvolle Dinge nachzudenken, weil sie dachten, man kann ohnehin jeden Blödsinn durch das richtige Marketing verkaufen.

SZ: Und das ändert sich jetzt?

Kassaei: Das muss sich ändern. Unternehmen, die das nicht kapieren, werden untergehen - egal, wie groß oder wichtig sie jetzt noch erscheinen mögen. In der Krise haben viele Menschen angefangen darüber nachzudenken, was sie eigentlich wirklich wollen, was sie brauchen und was ihnen wirklich wichtig ist. Diese Bewegung hat erst begonnen, aber sie wird stärker, das ist unausweichlich. Es geht nicht mehr darum, möglichst viel von allem zu besitzen. Es geht darum, die Dinge zu haben, die einem das Leben tatsächlich leichter, besser oder effizienter machen. Man könnte auch sagen: Die Leute haben keinen Bock mehr auf Schrott, und wenn er von der Werbung noch so hübsch verpackt ist.

SZ: Macht das die Werbeagenturen dann nicht überflüssig?

Kassaei: Natürlich, Werbung im klassischen Sinn ist eine sterbende Branche. Deswegen müssen die Kreativen ein neues Selbstverständnis entwickeln, sie müssen den Firmen ein viel breiteres Spektrum an Beratung anbieten, als Unternehmer denken und Kreativität ganz anders leben. Wir müssen die Stärken von Firmen wie McKinsey mit dem Talent der Kreativen verbinden, um echte Innovationen zu produzieren.

SZ: Mit diesen Ideen haben Sie sich bei Ihren Kollegen nicht unbedingt beliebt gemacht.

Kassaei: Das wollen die nicht hören, das ist mir schon klar. Aber die Wahrheit ist: Wer sich nicht verändern will, wird untergehen. Unternehmen müssen auf Herausforderungen reagieren, die nicht immer im Bereich von Marketing und Kommunikation zu lösen sind. Die man substantieller angehen muss. Wenn man aber als Werber abgestempelt ist, dann sitzt man meist gar nicht mit am Tisch, wo diese Dinge entschieden werden. Dabei bräuchte man genau dann kreative Köpfe. Deshalb müssen die Kreativen ihr Selbstverständnis verändern.

SZ: Inwiefern?

Kassaei: Sie müssen ihre Kompetenzen verbreitern. Die Vorstände von Konzernen werden dich nur ernst nehmen, wenn du mit ihnen auf Augenhöhe diskutieren kannst. Kreativ talentiert zu sein, reicht also nicht mehr. Man muss künftig auch wirklich Ahnung haben. (Lacht.) Das bedeutet natürlich eine Menge Arbeit für die Branche, und darauf haben nicht wirklich alle Lust.

"Ich habe am Bahnhof die Klos geputzt"

SZ: Manche sagen, es ginge Ihnen gar nicht um die Sache. Die Rolle als Enfant terrible der Werbebranche gefällt Ihnen schon, oder?

Kassaei: Fragen Sie mich, ob ich eitel bin? Da haben Sie recht. Wer ist denn nicht eitel? Aber das ist nicht der Punkt. Wenn man etwas verändern will, muss man konsequent sein. Aber bei Veränderungen haben die meisten Angst, aus der Angst heraus entsteht Unverständnis und aus diesem Unverständnis heraus entstehen Vorurteile. Deswegen habe ich bei manchen vielleicht einen schlechten Ruf. Aber es stimmt schon, ich bin natürlich auch nicht der geborene Diplomat.

SZ: Das ist noch milde ausgedrückt.

Kassaei: Ich habe aufgrund meiner Lebensgeschichte eine ganz andere Einstellung und Perspektive als die meisten. Das fängt schon damit an, dass ich es mir schon in sehr jungen Jahren im wahrsten Sinne des Wortes nicht leisten konnte, mir selbst oder anderen etwas vorzumachen. Das prägt.

SZ: Sie waren mal Kindersoldat.

Kassaei: Im Ersten Golfkrieg (Iran-Irak-Krieg; Anm. d. Red.), das stimmt. Ich war dreizehn damals. Nach zwei Jahren bin ich über die türkische Grenze nach Österreich geflüchtet.

SZ: Ganz allein?

Kassaei: Ganz allein. Irgendwann stand ich mitten in Wien, als Fünfzehnjähriger, ohne Geld und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Da ist keine Zeit für Bullshit-Bingo. Da kann man dann nicht jammern, man ist damit beschäftigt, irgendwie zu überleben. Ich habe die Sprache gelernt, bin zur Schule gegangen und habe nebenher jeden denkbaren Job gemacht, den man in Wien machen kann.

SZ: Zum Beispiel?

Kassaei: Ich habe Schnee geräumt, am Bahnhof die Klos geputzt. Alles, was irgendwie Geld gebracht hat. Das war hart, aber im Nachhinein die beste Schule. Das hat mich souverän gemacht.

SZ: Souverän?

Kassaei: Ich bin nicht korrumpierbar. Viele Leute werden irgendwann Bewahrer und Verteidiger des Alten. Weil sie denken, dass das, was sie aufgebaut haben, das Wichtigste ist, und weil sie Angst haben, es wieder zu verlieren. Ich aber weiß, dass ich meine Familie jederzeit auch anders durchbringen könnte. Ich brauche kein Segelboot und keine Designeranzüge. Alles, was ich seit meinem 15. Lebensjahr erlebe, ist die Kür. Ich sollte eigentlich gar nicht mehr da sein. Mit diesem Wissen geht man anders durchs Leben, souveräner eben.

SZ: Wie war Ihr Kontakt zur Familie damals?

Kassaei: Lange nur telefonisch. Als ich meine Familie das erste Mal wiedergesehen habe, war ich schon 25, da haben sie mich in Wien besucht. Heute ist es immer noch schwierig, die Reise ist für meine Eltern langsam ziemlich anstrengend und ich kann ja nicht runterfahren. Ich darf nicht einreisen.

SZ: Sie können nie mehr zurück?

Kassaei: Solange die politischen Verhältnisse so sind, nein. Ich bin ein Deserteur. Das wäre wirklich keine gute Idee.

SZ: Vermissen Sie Teheran manchmal?

Kassaei: Heimat zu konservieren ist nichts für mich. Ich rotte mich auch nicht zusammen mit anderen Iranern, wie andere das machen. Integration ist meiner Meinung nach Bringschuld und nicht Holschuld. Ich habe keine Heimatgefühle für den Iran. Wenn ich mich festlegen müsste, würde ich sagen: Ich fühle mich als Österreicher. Aber wenn sich die Dinge ändern, wer weiß? Man sagt, je älter man wird, desto größer wird die Sehnsucht nach den Wurzeln.

"Im Privatjet begreife ich das Leben nicht"

SZ: Sie haben kürzlich ein neues Unternehmen gegründet, Hubble Innovations. So wenig Vertrauen in die Werbebranche, dass Sie schon an Alternativen basteln?

Kassaei: In zehn Jahren werde ich wahrscheinlich nicht mehr in der Werbung arbeiten, zumindest nicht in der Werbung in ihrer derzeitigen Form. Hubble Innovations ist eher ein Think-Tank. Wir produzieren Innovationen, die das Leben der Menschen einfacher, besser und effizienter machen. Wir haben keine Kunden, sondern Partner. Wir können aus dem Wissen über Märkte, Technologien und Menschen andere Schlüsse ziehen als Unternehmen selbst und kommen zu ganz anderen Konzepten. Das Beste aus der Welt der Unternehmensberatung mit multidisziplinärer Kreativität.

SZ: Aber wollen die Unternehmen wirklich von ihren Werbeleuten gute Ratschläge, wie sie ihr Geschäft führen sollen?

Kassaei: Wenn wir den Anspruch haben, auch ein Unternehmen und seine Herausforderung zur Gänze zu verstehen, dann ja. Bei Reebok etwa bin ich auch für die Kommunikation verantwortlich. Aber mit Hubble beraten wir das Unternehmen von der Produktentwicklung bis hin zum Vertrieb. Meiner Erfahrung nach sind Unternehmenslenker viel eher bereit, innovative Wege zu gehen, als ihr Stab es einem weismachen will.

SZ: Tatsächlich?

Kassaei: Werbeagenturen sind üblicherweise nicht so irre, den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen, und ihren Kunden zu sagen: Die Kommunikation, die wir machen, hat keinen Mehrwert. Dabei wollen die Unternehmen das sogar. Vorstandsvorsitzende sind immer von Jasagern umgeben, die begrüßen das, wenn ihnen mal einer sagt, was er wirklich denkt. Es ist doch so: Wenn ich immer im Heck einer Limousine oder im Privatjet sitze, kann ich doch das wahre Leben nicht begreifen. Wie soll ich dann Produkte entwickeln, die die wahren Bedürfnisse von Menschen befriedigen und einen nachvollziehbaren Mehrwert haben? Das geht doch gar nicht. Man sollte mal eine Umfrage machen, wie viele Dax-Vorstände regelmäßig mit der Straßenbahn fahren oder im Supermarkt einkaufen. Das würde mich interessieren.

SZ: Sie gehen selbst in den Supermarkt?

Kassaei: Natürlich. Viele Menschen in Spitzenpositionen laufen Gefahr, in einer Scheinwelt zu leben, weil das so ein eigener Kosmos ist. Mit meinem Hintergrund bin ich da sicher weniger gefährdet. Wenn man das normale Leben kennt, zieht man auch für seine Arbeit die richtigen Schlüsse. Ob man Werbung macht oder Unternehmen dabei hilft, Innovationen zu produzieren. Ich weiß, wie es ist, auf 20 Quadratmetern zu leben, und das ist wichtig.

SZ: Und wie viele Quadratmeter hat Ihre Wohnung heute?

Kassaei: (lacht) Viel zu viele. Ich hab die Wohnung selbst ausgebaut, mit ein paar Kumpels. Wir haben für ganz wenig Geld eine Rohbaustelle gekauft und zweieinhalb Jahre gewerkelt. Aber ich könnte jederzeit auch wieder in eine 20 Quadratmeter-Wohnung ziehen, das wäre kein Problem für mich. Diese innere Freiheit haben nicht viele Menschen in meiner Position. Es ist immer noch alles besser, als Klos am Bahnhof zu putzen, oder sich eine Woche lang von zehn Scheiben Extrawurst zu ernähren. Oder mit 13 zuzusehen, wie zehn Meter weiter der beste Freund in einem Minenfeld zerfetzt wird.

SZ: Haben Sie damals auch jemanden erschossen?

Kassaei: Ja, mehrere.

SZ: Beschäftigt Sie das heute noch?

Kassaei: Ich habe nachts Albträume, und das wird auch immer so sein. Es wird im Laufe der Zeit weniger. Aber als ich vor fünf Jahren zum ersten Mal in Dubai war, das ist nur ein paar Kilometer südlich von der Frontlinie, an der ich damals gekämpft hatte, da wollte ich nur mal kurz raus aus dem Flughafengebäude, um eine Zigarette zu rauchen. Aber als ich durch diese Tür trat, war da plötzlich wieder diese ganz spezielle Luft, die gleiche Luft wie damals. Da kam plötzlich alles wieder hoch, all diese Bilder. Das war heftig, richtig heftig. Eigentlich gibt es kein Wort, das dieser Erfahrung gerecht wird.

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