TV-Kritik: Anne Will:Wenn Reden über Armut arm bleibt

Meine Wirklichkeit, deine Wirklichkeit: Ursula von der Leyen verteidigt bei Anne Will nervös das Mini-Plus von fünf Euro bei den Hartz-IV-Regelsätzen. Kleine Leute kamen auch vor - jeder der Diskutanten kannte tatsächlich einen.

Lilith Volkert

Ein unbeholfenes Stolpern? Oder ein "sehr, sehr großer Schritt", den Kanzlerin Angela Merkel sieht? Am Sonntagnachmittag beschließt das Kabinett die Hartz-IV-Regelsätze um fünf Euro zu erhöhen - statt bisher 359 gibt es dann monatlich 364 Euro pro Monat. Ein paar Stunden später sitzt dann Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) in Anne Wills ARD-Talkrunde und verteidigt mit roten Äuglein und dünnem Nervenkostüm dieses Mini-Plus für 6,7 Millionen Hartz-IV-Empfänger.

Die Frau, die mal kurz als Bundespräsidentin im Gespräch war, argumentiert mit dem Formalen. Sie redet wie eine Beamtin. Ja, es stimmt, es ging dem Bundesverfassungsgericht nicht vordergründig um eine Erhöhung, als es im Februar eine Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze anordnete. Die Karlsruher Richter hatten nur verlangt, das Zustandekommen der Regelsätze transparenter und nachvollziehbar zu machen. Ob das geschehen ist, können die Gäste von Anne Will - Linken-Chef Klaus Ernst, Ex-BDI-Präsident Michael Rogowski, Pfarrer Franz Meurer und Journalist Jan Fleischhauer - an diesem Abend nicht beurteilen.

Man weiß es einfach nicht, von der Leyen hat den Rechenweg, hin auf die fünf Euro, nicht transparent gemacht. Also diskutieren die Studiogäste, wenn sie denn schon mal da sind, über eine Handvoll Geld und das Leben der "kleinen Leute". So bleibt die Debatte über die Armen notgedrungen armselig.

Da habe sich Guido Westerwelle ("spätrömische Dekadenz") nun also doch durchgesetzt, schreit Klaus Ernst in die Runde, offenbar voll und ganz entschlossen, die Diskussion nicht zu sachlich werden zu lassen. "Fünf Euro wirken lächerlich", sagt auch Michael Rogowski, der aber - im Gegensatz zu Ernst - überhaupt keine Erhöhung des Regelsatzes will. Diese Summe habe er am Vorabend für ein Glas Wein ausgegeben, gibt Spiegel-Mann Fleischhauer zu, rückt die randlose Brille zurecht und schämt sich sichtbar, so einen billigen Tropfen zu trinken. Aber vielleicht waren es ja 0,1 Liter.

Dass die Erhöhung nicht üppig sein werde, war klar, seit am Ende der vorigen Woche über einen monatlichen Zuschlag von 20 Euro spekuliert wurde. Dass er nun noch knapper ausfällt und die Sätze für Kinder und Jugendliche gar nicht erhöht werden, empört Opposition und Sozialverbände. "Die Leute, die Hoffnung haben, wieder Arbeit zu finden, kneifen zusammen und halten es eine Weile mit Hartz IV aus", sagt Pfarrer Franz Meurer und erfreut das Publikum mit Kölschen Kraftausdrücken. "Schwierig wird's erst bei den anderen."

Ansonsten kommt die Diskussion immer wieder auf die "Lebenswirklichkeit der kleinen Leute": Der Langzeitarbeitslose, die Friseurin, der Verkäufer. Kleine Leute kommen persönlich in der Sendung nicht vor, aber jeder der Anwesenden hat immerhin schon mal einen getroffen. Pfarrer Meurer bei seiner täglichen Arbeit im sozialen Brennpunkt Köln-Höhenberg-Vingst. Ministerin von der Leyen im Jobcenter, wo es "gerade richtig brummt, das sollten Sie einmal sehen". Und Journalist Fleischhauer hat schon mal den Artikel eines Spiegel-Kollegen darüber gelesen.

"Das sollten uns die Kinder wert sein"

Weil sich die Lebenswelt der "kleinen Leute" anscheinend präzise vermessen lässt - das Statistische Bundesamt hat extra eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe angefertigt -, kann das Existenzminimum in Deutschland nun ganz genau festgestellt werden. Alkohol und Zigaretten, die bisher mit 20 Euro zu Buche schlugen, werden nicht mehr mitgerechnet, dafür kommen künftig die Kosten eines Internetzugangs dazu. Die Sätze für Kinder bleiben gleich.

Aber ob das alles stimmt mit den 364 Euro oder ob nicht die 420 Euro, die die Sozial- und Wohlfahrtsverbände errechnet haben, stimmiger sind, das weiß man eben nicht. Eine "Verhöhnung" der Hartz-IV-Empfänger sei das nicht, findet Ursula von der Leyen und verliert - auf die lange Entscheidungsfindung seit Februar angesprochen - einen Moment lang fast die Nerven: "Frau Will, brauchen Sie jetzt Nachhilfestunden in Gesetzgebung?" Das klang ziemlich arrogant. Angst vor der nächsten Wahl muss ihre Koalition jedenfalls nicht haben: Hartz-IV-Bezieher dürften sich unter den Stammwählern von Union und FDP kaum finden. Auch Klaus Ernst macht seine eigene Vorstellung von Lebenswirklichkeit deutlich: Der Porsche-Fahrer hat wegen eines Extragehalts als Vorsitzender Ärger mit seiner Partei, spielt sich aber in der Sendung als "Matador der Armen" (Fleischhauer) auf. Mit Verve fordert er - zusätzlich zum Mindestlohn - einen Hartz-IV-Regelsatz von 500 Euro, sodass man unwillkürlich an die dicke Dame an der Wursttheke denken muss: "Darf's noch ein bisschen mehr sein?"

Lässt man sich davon nicht ablenken, drängt sich im Laufe des Armen-Talks die Erkenntnis auf: Mehr Geld löst die Probleme nicht. Die der meisten Langzeitarbeitslosen nicht, schon gar nicht die der Kinder, die in Hartz-IV-Familien aufwachsen. "Bildung hängt nicht vom Geld ab, sondern von der Zuwendung", findet Michael Rogowski.

Christdemokratin von der Leyen preist dann auch die von ihr durchgesetzten Sachleistungen wie warmes Mittagessen, Musikschulunterricht und Besuch im Sportverein, für die sie 620 Millionen Euro ausgeben will ("Das sollten uns die Kinder wert sein"). Auch Journalist Fleischhauer findet Bildungsgutscheine gut - wenn sie nur jemand nutzen würde - und empfiehlt ansonsten eine Kindergartenpflicht.

Für Details der Hartz-IV-Reform ist so eine Stundenshow der Worte zu knapp bemessen, das wird von der Leyen sofort in Berlin nachholen. Am 20. Oktober will das Bundeskabinett entscheiden. Dann muss der Bundesrat zustimmen - in dem Union und FDP keine Mehrheit mehr haben. Gut möglich, dass das Gesetz wieder dort landet, wo es herkommt: beim Bundesverfassungsgericht.

Deutschland stolpert weiter. Es meint, einen großen Schritt zu tun.

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