Terrorwarnungen für Europa:Mit einem Phantom wird Politik gemacht

Die USA warnen vor Terroranschlägen in Europa. Deutsche Experten glauben jedoch, dass so vor den US-Wahlen Stimmung gemacht werden soll - Osama bin Laden habe mit dem eigenen Überleben zu tun.

H. Leyendecker

Die Warnmeldungen amerikanischer Behörden über die angeblichen Anschlagspläne islamistischer Terroristen in Europa haben die Diskussion über den derzeitigen Zustand des Terrornetzwerks al-Qaida neu belebt. So geht das National Counterterrorism Center (NCTC), in dem amerikanische Sicherheits- und Geheimdienstbehörden einen Teil ihrer Erkenntnisse zusammenführen, davon aus, dass zumindest derzeit die zentrale Führung von al-Qaida mit Osama bin Laden stark geschwächt ist. Andererseits sei die Bedrohung vielschichtiger geworden. Das Netzwerk habe neue Spinnen bekommen, von denen neue Gefahren ausgingen.

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Französische Soldaten patrouillieren unterhalb des Eiffelturms: Die  zuletzt verbreiteten Warnungen vor Anschlägen in Paris sind wohl auf Hinweise nordafrikanischer Dienste zurückzuführen - der Al-Qaida-Ableger im Maghreb ist gut organisiert und hat viele Kämpfer in seinen Reihen.

(Foto: AFP)

Das ist das Fazit einer Expertise der Behörde, die Mitte September dem Senatsausschuss für Homeland-Security in Washington präsentiert wurde. Die Arbeit der NCTC wird auch von Sicherheitsbehörden in Europa stark beachtet. Deutsche Experten kommen in Teilen zu einer ähnlichen Lagebeurteilung: "Osama bin Laden hat vermutlich mit dem eigenen Überleben mehr zu tun als mit irgendwelchen Anschlagsplanungen", sagt ein hochrangiger Sicherheitsfachmann. Diese Einschätzung führte unter anderem in deutschen Sicherheitskreisen zu der Annahme, dass es entgegen der Warnungen aus den USA keine neue und akute Gefahrenlage in Deutschland gebe - und daher keinen Anlass für eine veränderte Bewertung. Zwar hatte al-Qaida im Herbst 2009 ausdrücklich mit Anschlägen in Deutschland gedroht, aber das war vermutlich nur Propaganda.

Die amerikanischen Dienste stützen sich offenkundig vor allem auf die Aussagen des im US-Militärgefängnis Bagram in Afghanistan einsitzenden deutsch-afghanischen Islamisten Ahmad S.. Der aus Hamburg stammende Mann, der im Sommer in Kabul festgenommen worden war, soll amerikanischen Spezialisten bei Verhören verraten haben, die derzeitige Nummer drei von al-Qaida, Scheich Junis al-Mauretani, plane eine Anschlagsserie in Europa. Angeblich habe S. im Frühsommer den Scheich in Pakistan getroffen, dieser habe bei dieser Gelegenheit über die Pläne geredet. Zudem habe demnach Osama bin Laden den Terror-Plot persönlich gebilligt und Geld dafür zur Verfügung gestellt.

Auch nachdem am Sonntag, wie berichtet, ein deutscher Diplomat erstmals mit dem Terrorverdächtigen in Bagram sprechen konnte, reagieren deutsche Experten weiterhin skeptisch auf die Berichte der US-Behörden. Zum einen sei davon auszugehen, dass S. "nicht von Waldorf-Schülern vernommen wird", erklärt ein weiterer deutscher Regierungsbeamter, der auch anonym bleiben möchte. Zum anderen stünden in den USA Kongresswahlen an: Es dränge sich "der Eindruck auf, dass derzeit mit angeblich vereitelten Anschlägen Politik gemacht werden" soll. Unklar sei auch, ob S. über solche Kenntnisse verfügen könne. Ein US-Regierungsbeamter sagte dazu der SZ, die USA würden nicht sämtliche Informationen mit den Deutschen teilen, weil "erfahrungsgemäß" ein Teil davon in deutschen Medien landen würde. Darüber hinaus sei es "unanständig", die Regierung Obama derart zu verdächtigen.

Wochen vor den neuen Warnmeldungen hatte der Chef des Bundeskriminalamts (BKA), Jörg Ziercke, in einem Interview mit dem Tagesspiegel bezweifelt, dass der Kern von al-Qaida heute noch in der Lage sei, einen großen Terrorangriff wie den vom 11. September zu koordinieren. Bin Laden und sein Stellvertreter Aiman al-Sawahiri könnten sich in ihren Verstecken, die im nordpakistanischen Waziristan vermutet werden, kaum bewegen. Unter Fachleuten herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Zentrale von al-Qaida erhebliche finanzielle Probleme hat. So behauptete der angebliche Finanzchef der Terrorgruppe, der Ägypter Mustafa Abu al-Yazid, in einer vor Monaten verbreiteten Botschaft, wegen der Finanznot habe das Terrornetzwerk "geplante Operationen" verschieben müssen oder gar ausfallen lassen. Der Ägypter wurde im Frühsommer in Pakistan durch eine Drohne getötet.

Der in Bagram einsitzende Ahmad S. gehörte - wie ein weiteres halbes Dutzend Kämpfer aus Deutschland - der Islamischen Bewegung Usbekistan (IBU) an, die im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet operiert und unter starkem Druck der Amerikaner steht. Bislang ist bei dieser auf einige hundert Personen geschätzten Gruppe nichts von Anschlagsplänen in Europa bekannt geworden. Bei einer Splittergruppe der IBU, der Islamischen Dschihad-Union (IJU), halten sich ebenfalls deutsche Kämpfer auf. Die IJU hatte vor ein paar Jahren Angehörige der sogenannten Sauerland-Gruppe nach Deutschland beordert, um dort Anschläge auf US-Militäreinrichtungen durchzuführen. Nach übereinstimmenden Einschätzungen von Sicherheitsfachleuten sind derzeit die Qaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) und die der Terror-Holding ideologisch verbundenen Shahab-Milizen in Somalia weit schlagkräftiger als der Kern der Terrorgruppe. Eine Besonderheit ist der Dachverband der Pakistanischen Taliban (TTP). Als besonders gefährlich gilt die Qaida-Filiale in Nordafrika, die über eine gute Organisation verfügt. Teile der al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM) sehen in Frankreich den Hauptfeind. Die zuletzt verbreiteten Warnungen vor Anschlägen in Paris sind denn wohl auch eher auf Hinweise nordafrikanischer Dienste als auf die Aussagen des inhaftierten Ahmad S. zurückzuführen.

All diese Spinnen mit den vielen seltsamen Abkürzungen bilden aus Sicht der US-Behörde NCTC eine potentielle Gefahr für die USA. So soll der nigerianische Student Umar Farouk Abdulmutallab, der Weihnachten 2009 versuchte, mit Sprengstoff ein Flugzeug über Detroit zum Absturz zu bringen, eng mit der AQAP in Jemen zusammengearbeitet haben. Die Hintermänner des Anschlags, der im Frühjahr am New Yorker Times Square mit einer eher dilettantisch gebauten Autobombe geplant war, sollen den pakistanischen Taliban angehören.

Klar ist für die meisten Experten, dass Heimkehrer, die in Afghanistan oder Pakistan in Milizen gekämpft haben, eine große Gefahr darstellen. So geht das BKA davon aus, dass sich derzeit mehr als 400 Islamisten in Deutschland aufhalten, von denen etwa 130 als harter Kern gelten. Schätzungsweise 70 könnten in Terrorcamps ausgebildet worden sein. Alle Fachleute warnen zudem vor den "homegrown-terrorists", die in den USA oder in Europa geboren sind, dort leben und im Internet durch dschihadistische Hasspropaganda zu potentiellen Terroristen werden. Eher ratlos reagieren die Behörden auf eine neue Botschaft, die möglicherweise von bin Laden stammt. In dem Tonband, das Ende vergangener Woche veröffentlicht wurde, ruft der Mann, der bin Laden sein soll, seine Glaubensbrüder zu Ackerbau und Viehzucht auf und beklagt die Folgen der Klimakatastrophe.

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