Gewaltforschung:Halbmond der letzten Kriege

Wir leben den gewaltlosesten Zeiten der Menschheitsgeschichte. Das ist die These des US-Psychologen Steven Pinker von der Harvard University.

Andrian Kreye

Eigentlich ist Steven Pinker Professor für Psychologie an der Harvard University. Seine Zwillingsforschungen, seine Untersuchungen über die Evolution der Sprache und des Denkens gehören zu den wegweisenden Arbeiten auf diesen Gebieten. Oft widmet er sich aber auch Themen, die über sein Fachgebiet hinausgehen. In "Das unbeschriebene Blatt: Die moderne Leugnung der menschlichen Natur" demontierte er die politischen, moralischen und emotionalen Färbungen des modernen Menschenbildes. Derzeit arbeitet er an einem Buch über den historischen Rückgang der Gewalt.

UN-Fahrzeuge in Liberia, 2003

Blauhelme in Liberia - selten erfährt man von Erfolgen der Friedenstruppen in Afrika.

(Foto: AP)

SZ: Herr Pinker, wie kommen Sie zu dem Schluss, dass es noch nie in der Geschichte der Menschheit so wenig Gewalt gab wie heute?

Steven Pinker: Ich stieß vor vier Jahren auf eine Studie, die nachwies, dass die Mordraten im England des Mittelalters ungleich höher waren als heute. Das fand ich überraschend. Ich habe das dann in einem kurzen Beitrag für das World Question Center erwähnt. Daraufhin schrieben mir verschiedene Historiker und Politologen, dass es da noch viel mehr Daten gibt.

SZ: Wie begann diese Entwicklung?

Pinker: In Europa. Italien war etwas später dran als England und Deutschland. Aber gerade während der Zeit der Aufklärung gab es eine Reihe von humanitären Reformen, die wir heute für selbstverständlich nehmen - die Abschaffung der Sklaverei und der unverhältnismäßig grausamen Bestrafung, wie das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen oder das Rädern. Das lief dann bis zum 20. Jahrhundert in Europa auf eine Rate hinaus, die sich heute auf einen gewaltsamen Tod pro 100000 Bewohner beläuft. Im Mittelalter lag die Rate noch bei 35.

SZ: Ist das ein rein europäisches Phänomen?

Pinker: Nein. In den USA ist die Zahl der gewaltsamen Todesfälle heute ähnlich niedrig wie in den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Das war in der Geschichte Amerikas und Europas die sicherste aller Zeiten. Auch wenn wir uns heute darüber lustig machen, über Ozzie und Harriet, die phänotypischen Plastikmenschen der Suburbia.

SZ: Ist das eine stetige Entwicklung?

Pinker: Nein. In den sechziger Jahren schoss beispielsweise die Gewaltrate in allen Ländern mit der Ausnahme von Japan wieder nach oben.

SZ: Wieso?

Pinker: Das war zunächst gar nicht so einsichtig. Als Sozialwissenschaftler betrachte ich ja zunächst einmal strukturelle Faktoren. Arbeitslosigkeit. Wirtschaftsdaten. Sicher, da gab es den Babyboom der Nachkriegsjahre. Gewalttaten werden vor allem von jungen Menschen verübt. Aber das macht höchstens 15 Prozent einer solchen Entwicklung aus. Die Wirtschaft konnte es auch nicht sein, die boomte zu der Zeit. Außerdem gab es in den Sechzigern in westlichen Gesellschaften mehr Gleichberechtigung als heute. Dazu kam die bessere medizinische Versorgung - das Opfer einer Messerstecherei hatte eigentlich eine viel bessere Chance, zu überleben. Und trotzdem hat sich die Mordrate in den USA verdoppelt. Auch in Europa stieg sie an. Es war jedoch ein kultureller Effekt.

SZ: In welchem Sinne?

Pinker: Damals feierte man die Impulsivität, die Rebellion, man verhöhnte die Selbstbeherrschung - mach dein Ding, lass jucken, walk on the wild side. Ich fühle mich zwar wie ein Verräter meiner Generation, aber es war diese ganze Kultur von Rock and Roll and Rebellion. Die Raten fluktuierten dann während der siebziger und achtziger Jahre. 1992 fielen sie wieder.

SZ: Schön für Europa und Amerika. Aber wie sieht es denn in Afrika aus?

Pinker: Erstaunlicherweise ist auch da die Gewalt niedriger als je zuvor. Wir sehen im Fernsehen zwar immer afrikanische Teenager mit Kalaschnikows, hören von der ausweglosen Situation im Kongo. Aber ich kann Ihnen einen Graph zeigen, auf dem man sieht, dass die Zahl der Toten in Afrika deutlich zurückgegangen ist. Wenn man einzelne Regionen oder ein Einzelschicksal herausgreift, kann man das nur schwer nachvollziehen. Vor allem, weil wir nicht realisieren, wie viele Kriege in Afrika zu Ende gegangen sind. Davon hören wir nichts, weil sie nicht mit einem Friedensvertrag, einem Handschlag, vielen Umarmungen zu Ende gehen. Sie laufen einfach so aus.

"Kriege zwischen Nationen gibt es fast keine mehr"

SZ: Hat denn die Zahl der Konflikte abgenommen?

Steven Pinker

Steven Pinker ist Psychologe an der Harvard University, Cambridge, USA. Seine Studien zur Evolution der Sprache und des Denkens gehören zu den wegweisenden Arbeiten auf diesen Gebieten.

(Foto: Rebecca Goldstein)

Pinker: Es gibt heute noch einen Halbmond der Kriegsgebiete, der sich von Afrika über den Nahen Osten bis nach Südostasien zieht. Aber diese Kriege haben eine andere Qualität. Warlords und Milizen richten numerisch keinen so großen Schaden an wie Armeen, die Artilleriegranaten auf die Städte des anderen schießen.

Das ist ja auch eine Erkenntnis, die sich noch nicht durchgesetzt hat - Kriege zwischen Nationen gibt es fast keine mehr. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren die Kriege mit den wirklich großen Opferzahlen der Koreakrieg, der Vietnamkrieg und der erste Golfkrieg zwischen Irak und Iran. Doch seit dem Ende des Kalten Krieges ist selbst die Zahl der Bürgerkriege zurückgegangen.

SZ: Warum glauben wir dann, dass wir in so brutalen Zeiten leben?

Pinker: Das ist zum einen eine Frage der Wahrnehmung. Wir vergessen einfach viel. Niemand erinnert sich noch daran, wie grausam die siebziger Jahre waren. Da gab es den Völkermord in Kambodscha, den Unabhängigkeitskrieg in Bangladesch, Ägypten, Syrien und Jordanien führten Krieg gegen Israel. So schlimm es im Nahen Osten auch zugehen mag - es gibt keine Kriege zwischen Ländern mehr.

SZ: Und zum anderen?

Pinker: Ist es eine Frage der Aufmerksamkeit. Medien folgen zunächst einmal schlechten Nachrichten. Wenn jemand friedlich im Schlaf stirbt, ist das eben keine Nachricht - wenn er nicht berühmt war. Der menschliche Geist zieht statistische Schlüsse aber nicht aus Zahlen, sondern aus Dingen, die seine Aufmerksamkeit erregen, die im Gedächtnis bleiben, die man mit eigenen Augen sehen kann. Wenn man die Bilder eines Terroranschlags oder eines Amoklaufs sieht, hat man den Eindruck, wir leben in furchtbaren Zeiten. Außerdem gibt es da noch die moralisierende Komponente.

SZ: Und die wäre?

Pinker: Wenn man sich als Aktivist oder NGO für eine Sache einsetzt, wird einem immer daran gelegen sein, die Dinge so furchtbar wie möglich darzustellen, um Interesse und Gelder zu mobilisieren. Das führt allerdings zu einem Trugschluss. Wenn man immer nur das im Blick hat, was alles im Argen ist, und nicht das, was Probleme löst, wie soll man dann wissen, wo man seine Anstrengungen konzentriert? Einer der Gründe für den Rückgang der Gewalt in Afrika ist ja zum Beispiel der verstärkte Einsatz von Friedenstruppen.

SZ: Nun sind Sie weder Historiker noch Politologe ...

Pinker: Ich behaupte auch nicht, dass ich originäre Quellenforschung betrieben habe. Ich habe mich auf existierende Arbeiten von Historikern und Politologen gestützt. Aber ich bin Sozialwissenschaftler. Ich bin es gewohnt, quantitative Daten zu analysieren. Ich habe mich auch auf Arbeiten konzentriert, die mir Zahlen liefern, aus denen ich Graphen konstruieren kann.

SZ: Und so sind Sie zum Schluss gekommen, dass wir in den gewaltlosesten Zeiten der Menschheitsgeschichte leben?

Pinker: Meine Arbeit zielt nicht auf eine Pointe. Ich beschäftige mich mit verschiedenen Trends, die sich zu verschiedenen Zeiten und über verschiedene Perioden hinweg entwickeln. Über Jahrtausende, Jahrhunderte, Jahrzehnte. Die haben nicht alle die gleichen Ursachen. Man kann die Zunahme oder die Abnahme von Gewalt auch nicht auf eine einzelne menschliche Eigenschaft zurückführen. Ich habe fünf Muster gefunden: reine Gewalt, räuberische Gewalt, instrumentale Gewalt und moralistische Gewalt wie Rache, Eifersuchts- und Ehrenmorde, sowie die angedrohte Gewalt, die Abschreckung.

SZ: Haben Sie die Evolution der Gewalt untersucht?

Pinker: Mit Evolution und Genen hat Gewalt nichts zu tun. Das zeigt ja gerade die Abnahme von Gewalt. Haben sich die Engländer genetisch verändert, seit sie weniger gewalttätig sind? Nein. Deutschland ist das beste Beispiel. Dort hat sich der Wandel von einer militaristischen in eine friedliche Gesellschaft so schnell vollzogen, das kann nichts mit Genen zu tun haben. Die einzige biologische Erklärung ist eigentlich auch eine kulturelle - dass wir heute imstande sind, Emotionen, die wir sonst für nahe Verwandte aufbringen, auch auf andere übertragen können. Auf der anderen Seite ist Handel ein wichtigerer Faktor. Wir bekämpfen selten jemanden, mit dem wir handeln.

SZ: Was ziehen Sie aus Ihrer Studie für Schlüsse?

Pinker: Ich werde keine Ratschläge für politische Entscheidungen geben. Dem wäre ich nicht gewachsen. Ich hoffe höchstens, dass man den Blick auf die Dinge richtet, die funktionieren. Mit empirischem Denken wird man am ehesten Lösungen finden.

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