Stuttgart 21 und die Grünen:Griff zur Notbremse

Im Widerstand gegen Stuttgart 21 profitieren die Grünen von ihrem Konservatismus. Die Union hat dagegen von Anfang an unterschätzt, wie verbreitet die Skepsis gegenüber Großprojekten auch im Bürgertum ist.

Tanjev Schultz

Der Protest gegen Stuttgart 21 ist im Kern konservativ. Das irritiert die Union, es profitieren die Grünen. Sie verstehen es, das Bürgerliche und Alternative, das Konservative und Progressive zu vereinen wie derzeit keine andere Partei. Die SPD wirkt unentschlossen, und in der Union gibt es wenig Platz für Technikskepsis und Fortschrittskritik. Konservative, die nicht daran glauben, dass man das Alte einreißen und die Erde umwälzen muss, um eine gute Zukunft zu haben, laufen zu den Grünen über.

Grüne überholen SPD

Die Ökologie-Bewegung hatte naturgemäß schon immer konservative Züge: Die Grünen profitieren vom Protest gegen Stuttgart 21.

(Foto: dpa)

Die Ökologie-Bewegung hatte naturgemäß schon immer konservative Züge. Wer Mensch und Natur vor rücksichtslosem Wachstum schützen will, lässt sich nicht so leicht begeistern für die Verheißungen von Investoren. Statt Großes zu bauen, will man sich bescheiden und mit dem Kleinen begnügen. Statt dynamisch nach vorne zu stürmen, lieber bremsen. Das schließt lauten Protest allerdings nicht aus, im Gegenteil. Von Walter Benjamin stammt dazu der passende, ins Konservative gewendete Revolutionsbegriff: "Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse."

In Stuttgart ziehen Bürger die Notbremse, denen es graut vor der Bahn und den Baggern. In der CDU fasst man sich an den Kopf, dass die Grünen ausgerechnet einen Bahnhof blockieren, ein tendenziell grünes Projekt. Und dass die Bürger ihre Liebe zum Juchtenkäfer und zu ein paar Bäumen entdeckt haben, obwohl durch den Umbau ein viel größeres Areal mit noch mehr Grün entstehen soll.

Die Union hat von Anfang an unterschätzt, wie verbreitet die Skepsis gegenüber allen Großprojekten ist. Viele Bürger - und nicht nur Berufsrevoluzzer - reagieren misstrauisch, wann immer Politiker und Manager große Pläne machen. Sie haben den Eindruck, dass die Welt dadurch oft nicht besser wird, sondern nur komplizierter und schlechter.

Die CDU stilisiert Stuttgart 21 deshalb nicht ganz zu Unrecht zum Symbol für die Innovationskraft des Landes. Angela Merkel spürt, dass sich das Unbehagen gegen Großprojekte von den Rändern der alternativen Öko-Szene längst bis in die bürgerliche Mittelschicht und die Klientel der CDU ausgebreitet hat. Ob es um Flughäfen, die Raumfahrt, den Transrapid, um Kraftwerke, Olympische Spiele oder den Bau einer Kongresshalle geht - die Fragen der Bremser sind stets die gleichen: Wer hat eigentlich etwas davon? Und was könnte man nicht alles anstellen mit dem vielen Geld!

In Stuttgart verbindet sich die Furcht vor dem Unbeherrschbaren, die Großprojekte auslösen, mit schwäbischer Solidität. Bürger, die jeden Tag erleben, dass der Staat nicht genügend Geld für die Schulen hat, blicken mit großen Augen auf die Milliardensummen, die der neue Bahnhof kosten soll. Die Befürworter verweisen auf die städtebaulichen Chancen, die der Umbau mit sich bringt. Doch das beeindruckt viele Bürger nicht. Wer arm ist und am Rand steht, hat das Vertrauen in die Politik oft schon verloren. Und wer etabliert ist, schützt lieber das Bestehende, verteidigt seinen Wohlstand und seine Ruhe. Die saturierte Mittelschicht scheut den Wandel und die Baustelle.

Stuttgart 21 mag der Stadt viele neue Möglichkeiten eröffnen, aber das Projekt verschließt aus Sicht der Gegner eine entscheidende Option: auf all das verzichten zu können. Es schafft Fakten, die künftige Generationen binden.

Der Soziologe Claus Offe sprach einmal von einer "Utopie der Null-Option". Diese Utopie teilen konservative Linke und linke Konservative, die sich nun stärker denn je bei den Grünen zu Hause fühlen. Sie möchten, dass ihre Welt überschaubar bleibt und nicht unumkehrbar verändert und verplant wird. Aus dem bürgerlichen Leben auszusteigen, trauen sich nur wenige. Umso heftiger träumen viele vom Griff nach der Notbremse.

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