Ernährung:Über den Tellerrand

Fleischkonsum, "functional food", Geschmacksverstärker, Formfleisch und andere Grausamkeiten: Neue Bücher regen an zum Nachdenken über unsere ekelhafte Lebensmittelindustrie.

Petra Steinberger

Was gäben wir nicht alles für ewiges Leben, für Gesundheit, für Schönheit. Die Wunderheiler, die einst durch die Dörfer zogen, um ihre Wässerchen und Mittelchen zu verkaufen, bedienten dieses tiefe Bedürfnis - und verdienten nicht schlecht daran. Was in ihren Wässerchen drin war, will und wollte man lieber nicht so genau wissen. Manchmal, wenn sich die komplette Nutzlosigkeit dieser Mittel herausstellte, wurden sie verprügelt und durch die Dorfstraßen getrieben. Dann kaufte man eben beim nächsten.

Mast-Puten stehen in einem Gehege

Rund zehn Millionen Truthähne werden in Deutschland gemästet. In konventionellen Putenfarmen werden die Tiere oft zu Tausenden in fensterlosen Hallen gehalten. Und trotz EU-Verbots werden immer wieder Fälle bekannt, in denen die Truthähne mit Antibiotika gedopt werden, weil sie dadurch schneller fett werden. Die Medikamente bleiben im Fleisch - und landen damit auf unseren Tellern.

(Foto: ddp)

Und heute? Heute gehen wir in den Supermarkt und kaufen "functional food". Nahrungsmittel also, die über ihren Nährwert hinaus noch gegen alles Mögliche helfen sollen. Gegen Akne und Alzheimer. Gegen Schweißgeruch und Hautalterung. "Actimel stärkt die Abwehrkräfte" - das ist vermutlich der liebste Hass-Satz von Thilo Bode, dem Ex-Greenpeace-Chef und Gründer der Verbraucherorganisation Foodwatch.

In seinem aktuellen Buch "Die Essensfälscher" enttarnt Bode solche Versprechungen der Lebensmittelkonzerne als das, was sie zumeist sind: Tricks, um auf den gesättigten Lebensmittelmärkten des Westens noch ein paar zusätzliche Marktanteile zu ergattern. Und dabei werden industrielle Lebensmittel die Wunderwässerchen von heute.

Aber dieses "functional food" ist bei Thilo Bode nur eine Möglichkeit, wie die großen Konzerne den Verbraucher hintergehen. Nach traditioneller Methode, in Handarbeit, nach Omas Rezeptur hergestellte, heimische, regionaltypische Lebensmittel sind meist weder "echt" noch "original", sondern Resultat industrieller Massenfertigung. "Unser Essen", schimpft Bode, "unterscheidet sich insofern nicht von Autos oder Gartenmöbeln."

Kaum ein Metzger schlachtet noch selbst, Bäcker backen Teiglinge auf, die in Asien vorgefertigt wurden. Nestlé stilisiert sich zum Retter des gesunden Schulfrühstücks - und verdient Millionen an Frühstücksflocken wie "Cini Minis", die zu einem Drittel aus Zucker bestehen.

Und wo Bio draufsteht, ist noch längst kein Bio drin. Geschmacksverstärker und Aromen werden als "natürliche Zutaten" getarnt, Hinterschinken, auch genannt Formfleisch, besteht aus zusammengepressten Resten, und selbst dieser Fleischanteil sinkt seit Jahren; ach, es ist tatsächlich ein Graus, was da so auf unsere Teller kommt. Lebensmittelkontrolleure sind überfordert, überlastet und haben oft längst kapituliert.

Natürlich hat man von solchen Lebensmitteltricksereien schon viel gehört, immer wieder tauchen "Imitat" und "Analogkäse" in den Talkshows auf, wo man sich dann ereifert. Und am nächsten Tag rennt man wieder zum Discounter, weil die Milch da noch ein paar Cent billiger ist. Aber es ist ernüchternd und aufrüttelnd, dass man durch Thilo Bodes Buch eine übersichtliche Gesamtschau solcher kulinarischen Gruselkreationen bekommt. Nur: Bewirken Bücher wie dieses darüber hinaus etwas? Bode fordert die Ampelkennzeichnung für Lebensmittel; er fordert die Offenlegung der Inhaltsstoffe, mehr Informationsrechte für Verbraucher, das Ende einer vor allem Kinder irreführenden Werbung, die Emanzipation der Politik aus dem Griff der Konzerne. Und er verlangt das Engagement des Verbrauchers. Passiert das?

Tatsächlich scheint sich etwas zu verändern. In den letzten Jahren wächst das Interesse der Verbraucher an der Qualität ihrer Lebensmittel - was an sich vordergründig widersprechenden Entwicklungen liegen mag. Während ein Teil der Menschheit zunehmend verfettet, leidet ein anderer, immer größerer, an Hunger. Wieder einmal bemerken wir den fatalen Zustand unserer Umwelt; unser Bewusstsein für Klimakatastrophen, sterbende Ozeane und Urwaldrodungen wächst. Und langsam erfassen wir unsere eigene Verantwortung dafür.

Die Veränderungen geschehen aber größtenteils so langsam, dass sie zugleich übermächtig und weit weg erscheinen. Wir fühlen uns angesichts der gewaltigen Größe des Problem eher machtlos. Also lenken wir unseren Umweltaktivismus auf Bereiche, die wir - hoffentlich - noch individuell beeinflussen können. Beispielsweise auf unsere Ernährungskultur. Das hat außerdem den Vorteil, dass zwischen den Guten, uns, und den verantwortlichen Bösen, der Industrie, noch einigermaßen sauber getrennt werden kann.

Wir gegen ein ungerechtes System: Das ist auch der Grundton in Tanja Busses Buch "Ernährungsdiktatur". Wie Bode prangert sie die Machenschaften und Tricks der Ernährungsindustrie an - und geht darüber hinaus. Denn Hunger und Fettleibigkeit sind die Folgen einer Fehlentwicklung des weltweiten Ernährungssystems. "In unserem Essen", schreibt sie, "steckt eine unerträglich große Menge an struktureller Verantwortungslosigkeit, die sich auch in unseren Seelen absetzt."

Wie wir uns ernähren, hat nicht nur gesundheitliche, sondern auch moralische Konsequenzen. Tanja Busse spannt da einen gewaltigen Bogen von genmanipuliertem Mais über den globalen Wettlauf um Ackerboden, die Öl- und Chemieabhängigkeit der Agrarindustrie bis zur Überbevölkerung. Das gerät auf 336 Seiten zwangsläufig manchmal etwas oberflächlich - aber vielleicht kann man nur so die moralischen und realen Abgründe dieser globalen Industrialisierung der Ernährung nachzeichnen.

"Tiere essen" von Jonathan Safran Foer (SZ vom 13. März 2010), inzwischen auch bei uns auf den Bestsellerlisten, beschränkt sich zumindest auf den ersten Blick auf ein Detail unserer Ernährung: den Verzehr von Fleisch. Doch gerade durch seine akribische Untersuchung der Wege, die Fleisch nimmt, durch seine Darstellung des Lebens und Sterbens der Tiere, die wir in so großen Mengen und so bedenkenlos verzehren, hat es der amerikanische Schriftsteller zumindest in den USA, Großbritannien und auch hier geschafft, eine allgemeine Diskussion über Vegetarismus auszulösen, über eine Idee also, die lange Zeit nur einige gern belächelte Ökologen und alte Tanten praktizierten.

Auf jeweils eigene Weise tragen alle drei Bücher (und sie sind nicht die einzigen, die in letzter Zeit zu diesem Thema erschienen sind) dazu bei, dass die Konsequenzen der heutigen industrialisierten Nahrungsmittelherstellung deutlich werden, die wir so gerne vergessen würden - und das betrifft die wirtschaftlichen, ökologischen und gesundheitlichen Folgen einerseits, die tiefgehenden moralischen Fragen andererseits. Die reichen Industriestaaten und ihre Konzerne, die dieses System geschaffen haben und kontrollieren, haben für uns ein Schlaraffenland entworfen, mit dem wir selbst nicht mehr zurechtkommen. Wir sterben an zu viel Fett und verstecktem Zucker und Proteinen. Die anderen aber, der größere Teil der Menschheit, und, ja, auch die Tiere, hab von dieser gewaltigen Nahrungsmittelindustrie recht wenig Vorteile. Und es wird schlimmer.

THILO BODE: Die Essensfälscher. Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 222 Seiten, 14,95 Euro.

TANJA BUSSE: Die Ernährungsdiktatur. Warum wir nicht länger essen dürfen, was uns die Industrie auftischt. Karl Blessing Verlag, München 2010, 336 Seiten, 16,95 Euro.

JONATHAN SAFRAN FOER: Tiere essen. Aus dem Englischen von I. Bogdan, I. Herzke, B. Jakobeit. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 399 S., 19,95 Euro.

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