Scripted Reality:Fast ein klassisches Drama

Mit Pseudo-Dokus erobert RTL Traumquoten. Nun wollen auch die Öffentlich-Rechtlichen von der falschen Wirklichkeit profitieren.

Hans-Jürgen Jakobs

Wer nachmittags auf RTL schaltet, den bewegten Kölner Privatsender, der könnte leicht zu dem Schluss kommen, ganz Deutschland sei auf Hartz IV. Hier sind, zwischen 14 und 17.30 Uhr, reihenweise Teenies schwanger, Mütter betrunken, Väter aggressiv. Viele sind arbeitslos. Beziehungen bestehen aus Fremdgehen, es fehlt fast immer an Geld und Liebe. Die Schule, ein Hort des Schreckens.

SChulermittler RTL

Inszenierte Realität: Formate wie Die Schulermittler sind günstig und schnell produziert - und bescheren dem Sender RTL Traumquoten.

(Foto: RTL)

Alles wirkt täuschend echt - als sei die Kamera mitten drin im wahren Leben.

Nicht zuletzt dank solcher Formate der inszenierten Realität ("Scripted Reality"), wird es dem Kölner Privatsender im Jahr 2010 wohl erstmals seit langer Zeit wieder gelingen, Marktführer im deutschen Fernsehen zu werden - vorbei an ARD und ZDF, und das trotz der vielen Bilder von Olympia und der Fußball-WM im Öffentlich-Rechtlichen.

Verständlich, dass die Manager des mit Gebührengeldern finanzierten Systems mit diesem "Sozial-Porno" (der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen) nichts zu tun haben wollen. "Wir müssen diese Entwicklung brandmarken. Die Abwärtsspirale geht immer weiter", verkündete jüngst NDR-Programmdirektor Frank Beckmann bei einer Diskussion des Mainzer Mediendisputs in Berlin.

Verlockung des Trash

Das klingt gut, muss aber nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Seit geraumer Zeit hat sich ausgerechnet jener Sender mit den Verlockungen des RTL-Trash-Programms am Nachmittag beschäftigt, der dem meinungsfesten Manager Beckmann das Gehalt zahlt: der Norddeutsche Rundfunk in Hamburg.

Hier entstand im Programmbereich Kultur und Dokumentation im Juni ein Papier ("Scripted Reality - eine Chance für den NDR?"), das ausführlich das umstrittene Genre analysiert - und vom Erfolg offenbar profitieren will. Autor Christian Stichler sieht "Scripted Reality" als "konsequente Weiterentwicklung der bisherigen Dokusoaps, kombiniert mit den Erfahrungen, die bei Gerichtsshows und dem Nachmittagstalk gewonnen wurden." Dann führt er auf: "Als erster öffentlich-rechtlicher Sender haben Jürgen Meier-Beer und ich für den NDR Kontakt zu den führenden und erfolgreichen deutschen Produzenten von Scripted Reality aufgenommen."

Es handelt sich um Norddeich TV und Filmpool in Köln sowie um Stampfwerk in Hamburg. Dessen Besitzer Günter Stampf verkündete jetzt: "Alles kann gescripted werden - bis auf die Nachrichten." Für eine Folge von Die Schulermittler brauche er nur 16 Stunden Drehzeit.

Trash in drei Akten

Diese Trias des Trashs lässt die Tue-so-als-ob-Folgen wie am Fließband ins RTL-Nachmittagsprogramm purzeln. All die ungeheuerlichen Schicksale von Mitten im Leben, Betrugsfälle, Verdachtsfälle, Schulermittler oder Familien im Brennpunkt entstehen hier. Damit schafft die Reality-TV-Station RTL in ihrer Kernzielgruppe der 14- bis 49-Jährigen Traummarktanteile von mehr als 25 Prozent, oft sogar von mehr als 30 Prozent.

Der "große Fundus an Laiendarstellern, die von den Produzenten über Jahre hinweg aufgebaut wurden, ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg der RTL-Formate", analysiert das NDR-Duo. Die Erzählweise entspreche in der Regel der eines klassischen Dramas, so die Experten, also in "drei Akten aus Exposition, Konfrontation und Auflösung". Vulgo: Es muss nach einem Sozialaufriss zunächst einmal richtig knallen, ehe es doch zum Happy-End kommt.

Eine 30-Minuten-Folge werde vermutlich zu Stückkosten von deutlich unter 20 000 Euro hergestellt, schätzen die NDR-Leute und wissen: "Zu stark von der Wirklichkeit abweichende Geschichten werden vom Zuschauer nicht akzeptiert. Der Zuschauer muss denken, so oder so ähnlich hätte das wirklich passieren können." Die beiden NDR-Programmexperten distanzieren sich zwar vom bloßen Kopieren der RTL-Reality-Formate - dennoch sei "die fiktionale Erzählweise im Doku-Stil ein dramaturgisches Mittel, das in Zukunft an Bedeutung gewinnen könnte". Grund: Sie liefere "spannende Geschichten zu einem relativ kleinen Budget". Die Schlussfolgerung: "In einer Übersetzung für die Sehgewohnheiten unserer Zuschauer könnte diese Erzählweise auch im öffentlich-rechtlichen Umfeld funktionieren."

Und das ist der Plan: Von RTL siegen lernen, ohne RTL zu sein. So schlagen die beiden Scripted-Reality-Forscher aus dem NDR-Sektor Kultur und Dokumentation ein "Pitching" zwischen den führenden Produzenten vor, um Storyline und Drehbücher entwickeln zu lassen. Danach sollten "drei oder vier Piloten" zum Testen in Auftrag gegeben werden. Wörtlich: "Die Kosten für eine solche Formatentwicklung schätzen wir auf circa 100 000 bis 150 000 Euro. Ziel wäre ein Sendeplatz im Hauptabend des NDR." Die neue Strategie heißt "Fiction light".

Aus dem Leben eines Dorfpolizisten

Welche Inhalte ideal wären, das wissen die Autoren des Geheimpapiers, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, auch schon. Es sei ja dokumentarisch schwer, das Leben eines Anwalts auf dem Lande abzubilden, Personen müssten unkenntlich gemacht oder Kameras aus dem Gerichtssaal ausgesperrt werden. Aber jeder Anwalt "oder auch ein Dorfpolizist" habe in seinen Berufsjahren viele spannende Fälle erlebt. Solche Protagonisten müssten aus ihrem Leben erzählen - Drehbuch folgt. O-Ton: "Das heißt, wir spielen diese Geschichten nach - in den Formen von Scripted Reality". Im Idealfall würden der Anwalt oder der Dorfpolizist die Rolle übernehmen, auf die eingesetzten Laienschauspieler soll im Abspann hingewiesen werden.

Carl Bergengruen, Fernsehdirektor des Südwestrundfunks (SWR), erklärte öffentlich, Scripted Reality verändere den Publikumsgeschmack, was zur "Hinrichtung" bestehender Sendungen führen würde. Noch vor einigen Jahren habe der öffentlich-rechtliche Sender Arte die Doku-Soap eingeführt, mit echten Menschen. Nun seien ARD und ZDF in der Bredouille.

Frisches fürs Vorabendprogramm

Bergengruen wird bald den NDR-Produktionsriesen Studio Hamburg leiten. Dort ist man übrigens nach SZ-Informationen in die Arbeiten an zwei Formaten mit Scripted-Reality-Elementen involviert: Eins über einen Dorfpolizisten, eins über das Phänomen Kreuzfahrt, Traumschiff inklusive.

"Das stimmt nur zum Teil", erklärt NDR-Programmdirektor Beckmann auf Anfrage. Der Sender prüfe gerade, ob es gelingt, "fiktionale Geschichten mit einfacheren Produktionsmitteln zu erzählen". Wie das konkret aussehen könnte, "darüber machen sich Kolleginnen und Kollegen auf meinen Wunsch hin derzeit Gedanken". Die Kriterien seien "keine Krawallgeschichten, kein Vorführen von Menschen, klare Kenntlichmachung" - das Fiktionale soll der Zuschauer verstehen. Es gehe um "neue Produktionsformen und Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen", etwa mit "EB-Kameras" und ohne gesetztes Licht - bei diesen "Denkansätzen" von Scripted Reality zu reden, sei "Etikettenschwindel", sagt er.

Beckmann, einst Chef des Kinderkanals, ist auch für das ARD-Vorabendprogramm zuständig. Hier, wo es um Werbeaufträge geht und um Reaktionen auf die starke private Konkurrenz, sind neue Ideen nötig. Klappt das nicht ohne billiges, fiktionales Reality-TV? Nur wenn die entwickelten Formate den eigenen Ansprüchen genügten, "werden sie auch tatsächlich auf Sendung gehen", sagt Beckmann. Über Kosten und Details will er nichts verraten, nur: Man müsse "gegebenenfalls auch einmal etwas ausprobieren dürfen - zumindest als Pilot".

Und warum nähert man sich ausgerechnet den drei Produktionsfirmen, die für RTL das angeblich vermaledeite Scripted Reality aufbereiten? Was da produziert werde, "kommt für uns niemals in Frage", erwidert Beckmann, "darum ging es mir auch nie". Im Übrigen gehe "die Freiheit der Redaktionen im NDR so weit, dass sie mit Produktionsfirmen reden dürfen, ohne vorher den Intendanten zu fragen".

Sein Fazit: "Denkverbote darf es nicht geben."

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