Deutscher Alltag:Der Instant-Analytiker

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Es ist zu befürchten, dass die Vernunft für Horst Seehofer ein fremder Kulturkreis ist. Und was der Ingolstädter Größtministerpräsident von fremden Kulturkreisen hält, weiß man ja nun. Dabei entgeht ihm aber nicht nur ein Detail.

Kurt Kister

Es ist zu befürchten, dass die Vernunft für Horst Seehofer ein fremder Kulturkreis ist. Was Seehofer von fremden Kulturkreisen hält, weiß man seit ein paar Wochen. Eigentlich seitdem er entdeckt hat, dass er, wenn er über fremde Kulturkreise schwadroniert, so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht wie nur bei wenigen anderen Ereignissen in seinem Leben.

Es soll gar nicht über Horst Seehofer geschimpft werden. Jedenfalls nicht so ausführlich. Der würde schließlich auch eine Haltung zu Katzen in der Wohnung entwickeln. Sofern es dem höheren Ruhme seiner Partei dienlich ist versteht sich. (Foto: dapd)

Bis vor kurzem wusste man nicht einmal, dass er eine Meinung zur Einwanderung hat; er selbst wusste vermutlich nicht genau, welche. So etwas hat Seehofer noch nie viel ausgemacht. Wenn er das Gefühl hätte, er müsste zum höheren Ruhme seiner Partei sowie seiner Position als Ingolstädter Größtministerpräsident eine entschiedene Meinung etwa zur Haltung von Katzen in der Wohnung entwickeln, dann würde Seehofer dies unter großem Getöse tun.

Aber eigentlich soll hier gar nicht über Seehofer geschimpft werden. Jedenfalls nicht so ausführlich. Vielmehr gilt es, wieder mal ein Buch zu loben. Geschrieben hat es einer der schlauesten Österreicher, nämlich Karl-Markus Gauß. Es heißt Im Wald der Metropolen und ist eine anrührende, bildende, bisweilen melancholische Wanderung durch Europa. Gauß, vom Migrationshintergrund her Donauschwabe, führt nicht nur, aber auch durch das einstige k. u. k. Mitteleuropa.

Man sitzt mit ihm in Bukarest und Siena, in Jasenovac und auf Patmos. Man lernt, dass dieses, unser Europa schon immer ein Kontinent der Minderheiten war, und dass selbst jene, von denen man glaubt, sie kämen aus dem selben Kulturkreis, dies übereinander gar nicht glauben. Gauß erzählt viele kleine Geschichten, die groß werden, wenn man über sie nachdenkt. Da gab es zum Beispiel im schlesischen Oppeln, das heute polnisch Opole heißt, einen Mann namens Jan Fethke, der dem Trennenden zwischen Deutschen und Polen in seiner Heimat mit Esperanto, der Kunstsprache begegnen wollte. Er war nicht sehr erfolgreich damit, aber immerhin schrieb er Romane auf Esperanto, von denen einer durch den Regisseur Fritz Lang unter dem Titel "Die tausend Augen des Dr. Mabuse" verfilmt wurde.

Die Geschichte Europas besteht aus vielen Geschichten von Integration und Desintegration. Liest man Gauß' brillantes Buch, kann man sich nur wundern, dass es heute dieses nahezu grenzenlose Europa überhaupt gibt, wo doch eigentlich alles so schwierig war und ist. Wahrscheinlich muss man ein gebildeter Melancholiker sein, um neugierig darauf zu werden, ob das Fremde vielleicht weniger traurig sein mag als das Bekannte. Dies jedoch ist eine Form des Wissenwollens, die Instant-Analytikern vom Schlage Seehofers verborgen bleibt.

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