Stuttgart 21: Protestforschung:Aufstand der grünen Senioren

Wer steckt hinter den Protesten gegen Stuttgart 21? Enttäuschte CDU-Wähler, sagt die SPD. Stimmt nicht, sagt die Protestforscherin Britta Baumgarten. Ihre Studie zur politischen Heimat der Demonstranten kommt zu einem verblüffenden Ergebnis.

Michael König

Dass es viele Menschen waren, die in Stuttgart gegen das Milliardenprojekt Stuttgart 21 auf die Straße gingen, war in den vergangenen Wochen und Monaten nicht zu übersehen. Unklar war allerdings der politische Hintergrund dieser Menschen - doch da hilft jetzt die Protestforscherin Britta Baumgarten vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB). Sie hat gemeinsam mit Dieter Rucht und Simon Teune erstmals wissenschaftlich untersucht, welche Motivation hinter den Protesten steckt - und wo die Demonstranten politisch beheimatet sind.

sueddeutsche.de: Frau Baumgarten, der baden-württembergische SPD-Chef Nils Schmidt hat betont, das bürgerliche Lager würde einen gewichtigen Teil der Demonstranten ausmachen - das seien ehemalige CDU-Wähler, die vor lauter Ärger über die Union auf die Straße gehen. Stimmt das?

Britta Baumgarten: Unsere Studie widerspricht dieser herrschenden Meinung. Die Mehrheit hat schon bei der letzten Wahl die Grünen gewählt, ist also nicht vom bürgerlichen Lager abgewandert. Allerdings gibt es auch CDU-Wähler unter den Demonstranten, und zwar deutlich mehr als bei Friedensdemos oder bei Protesten gegen Hartz IV, wo wir ähnliche Umfragen gemacht haben. Man kann durchaus festhalten, dass die CDU in Sachen Stuttgart 21 ein Problem hat.

sueddeutsche.de: Die Mehrheit der Demonstranten ist laut Ihrer Studie 40 bis 64 Jahre alt, deutlich älter als der Bundesdurchschnitt. Gleichzeitig gaben beinahe 80 Prozent an, bereits Erfahrung mit Demonstrationen zu haben. Ist der Protest gegen Stuttgart 21 die Rache der Alt-68er?

Baumgarten: Das würde ich so nicht unterschreiben. Aber es ist tatsächlich ein spannendes Ergebnis, das wir noch genauer prüfen werden. Viele Befragte haben angegeben, früher schon einmal gegen konkrete Dinge protestiert zu haben - allerdings nicht innerhalb der vergangenen fünf Jahre. Stuttgart 21 hat sie jetzt neu motiviert. Die Mehrheit ist situativ engagiert und außerdem politisch konservativer, als es die Alt-68er sind. Die zweitgrößte Gruppe sind die Protestneulinge, die erst spät gegen Stuttgart 21 aktiv geworden sind.

sueddeutsche.de: Der Auslöser dafür, sich gegen Stuttgart 21 zu engagieren, liegt laut Ihrer Studie bei der Mehrheit der Gegner schon länger zurück: Die Ablehnung eines Bürgerentscheids im Jahr 2007 hat offenbar viele Menschen verärgert. Warum tritt der Protest erst jetzt offen zutage?

Baumgarten: Der Massenprotest, wie wir ihn heute erleben, kam sicherlich später als 2007. Aber protestiert wurde auch deutlich früher, allerdings in kleinerem Ausmaß - und von den Medien weitgehend unbeachtet. Als schließlich ausführlicher berichtet wurde, schaukelte sich der Protest hoch: Die Gegner lasen darüber und nahmen dann selbst teil - was wiederum zu einer verstärkten Berichterstattung führte.

sueddeutsche.de: Laut Ihrer Studie sind - noch stärker als die Medien - persönliche Gespräche dafür verantwortlich, dass immer mehr Menschen auf die Straße gingen. Ist der Protest ein Nachbarschafts-Ereignis?

Baumgarten: Es ist auf jeden Fall ein lokales Ereignis. Zwei Drittel der Demonstranten kommen aus Stuttgart, mehr als 90 Prozent aus Baden-Württemberg. An diesem Ergebnis ist sehr spannend, dass die Mobilisierung weniger über Großorganisationen wie etwa Gewerkschaften stattgefunden hat. Sondern eher auf dem weniger klassischen, dem persönlichen Weg. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Stuttgart 21 stark von anderen Protesten.

sueddeutsche.de: Die Mehrheit sträubt sich gegen die hohen Kosten des Projekts - mit dem Neubau der ICE-Strecke zwischen Wendlingen und Ulm scheinen die Demonstranten aber einigermaßen einverstanden zu sein.

Baumgarten: Verglichen mit dem Durchgangsbahnhof ist das auf jeden Fall der Teil des Projekts, der am wenigsten umstritten ist. Nur ein Drittel der Befragten ist wirklich dagegen. Die meisten Protestler haben gesagt, sie würden der Neubaustrecke zustimmen - mit geringen Änderungen.

sueddeutsche.de: Weniger eindeutig sind die Antworten bei der Frage, ob die Demonstranten Vertrauen in den Schlichtungsprozess haben. Bei der Frage nach "viel oder wenig Vertrauen" kreuzte die Mehrheit an: "Weder noch."

Baumgarten: Das Problem ist offenbar, dass der Vermittlungsprozess keine wirklichen Kompromisse schaffen kann - man kann ja keinen halben Bahnhof bauen. Das wird dazu geführt haben, dass viele Leute eher skeptisch sind. Andererseits genießt Heiner Geißler als Schlichter großes Vertrauen - aber auch ihm sind Grenzen gesetzt. Die Leute fragen sich, was er bewirken kann. Das ist wohl der Grund, warum so viele Menschen eine unklare Antwort auf die Frage gegeben haben.

sueddeutsche.de: Die Einschaltung Heiner Geißlers soll den Konflikt befrieden, böse Zungen sagen: einschläfern. Hat die Schlichtung Auswirkungen auf die Proteste?

Baumgarten: Das ist schwer zu sagen. Es kommt stark darauf an, welche Ergebnisse der Prozess zutage fördert. Und darauf, welche Schlüsse die Landesregierung daraus zieht. Was die Demonstranten vor allem fordern, ist mehr Mitspracherecht und mehr Einsicht in das Verfahren. Da ist schon einiges schiefgelaufen, was nicht mehr repariert werden kann.

sueddeutsche.de: 80 Prozent der Befragten würden bei der Landtagswahl die Grünen wählen, im Bund sind es knapp 75 Prozent. Muss den anderen Parteien angesichts dieser Werte angst und bange sein?

Baumgarten: Aus unserer Studie lässt sich sicher keine Prognose für die tatsächliche Wahl ableiten, wir haben schließlich eine sehr spezielle Auswahl von Personen befragt. Aber die übrigen Parteien sollten sich schon Gedanken machen, wie so ein Ergebnis zustande kommt. Ganz unbesorgt sollten sie angesichts der Werte nicht sein.

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