Kirche und Missbrauch:"Ein Fall von weniger Gewicht"

Kerstin F. war 14 und Konfirmandin, er der väterliche Pfarrer. Bei Kirchenmusik zog er sie dann auf die Couch. Als die Frau den Pfarrer anzeigte, sollte er nur eine Entschuldigung an sie schreiben. Doch die kam nie an.

M. Maier-Albang

Sie sagt, sie war 14, als es anfing, kurz nach ihrer Konfirmation. Er war Ende 20, ihr Religionslehrer, ihr Jugendpfarrer. Als Romanze habe sie diese Beziehung nie empfunden, sagt Kerstin F. heute. Ihre Familie war in alle Winde zerstreut, sie hatte sich hilfesuchend an den Pfarrer gewandt, an den Wochenenden, wenn sie vom Internat kam, wohnte sie im Pfarrhaus in Niederbayern. Sie hätte einen Erwachsenen gebraucht, der sich um sie kümmert, ihr Halt gibt.

Doch der Pfarrer habe mehr gewollt. Auf dem Sofa im Wohnzimmer des Pfarrhauses seien sie gelegen, bei heruntergelassenen Rollos und Kirchenmusik, erinnert sich Kerstin F. Und während er in sie eingedrungen sei, habe sie sich in Gedanken Gedichte aufgesagt, um sich "aus der Situation herauszubegeben".

Kerstin F. ist heute verheiratet, hat Beruf und Kinder. Sie sagt, sie habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, was da mit ihr passiert sei. Mehr als 15 Jahre hat es gedauert es, bis sie die Kraft fand, den Pfarrer wegen sexuellen Missbrauchs bei seinem Dienstherrn anzuzeigen, der evangelischen Landeskirche in Bayern. Das war 2003. Ruhe aber fand sie bis heute nicht.

Denn die Landeskirche führte damals nur ein Disziplinarverfahren im Schonwaschgang gegen den Pfarrer - am Ende stand lediglich der Rat, künftig die "gebotene notwendige seelsorgerliche Distanz" zu wahren. Dabei hatte die evangelische Kirche in Deutschland damals schon klare Regeln, was zu tun ist, wenn der Verdacht auf sexuellen Missbrauch auftaucht. Der mutmaßliche Täter hätte suspendiert, das Opfer angehört werden müssen, der Vorgang wäre ein Fall für den Staatsanwalt gewesen. Nichts davon aber geschah. Niemand kam auf die Idee, Kerstin F. Hilfe anzubieten; sie erfuhr bis Frühjahr 2010 nicht einmal, dass die Kirche ihrer Anzeige nachgegangen war. Mittlerweile ist die Sache verjährt.

Im Landeskirchenamt gibt man inzwischen unumwunden zu, dass Fehler passiert sind. Und trotzdem tut sich die Kirchenspitze schwer mit der Geschichte von Kerstin F.. Es sind wichtige Kirchenvertreter in sie verwoben: Eine Regionalbischöfin, die Synodalpräsidentin, der Personalreferent.

Am 1. Juli 2003 wendet Kerstin F. sich an die für Missbrauchsfälle zuständige Frauengleichstellungsbeauftragte der Landeskirche, Johanna Beyer. Ihr übergibt F. Ausdrucke eines E-Mail-Verkehrs, den sie im Frühjahr 2003 mit dem Pfarrer geführt hat. Der Briefwechsel erzählt viel über das Verhältnis des Pfarrers zu seiner ehemaligen Konfirmandin: Sie sieht sich ausgenutzt, er redet, als sei es um eine Beziehung zwischen Erwachsenen gegangen. Für ihn hat sie nicht mal ein Jahr gedauert, für sie zweieinhalb.

Bis heute bestreitet der Pfarrer, dass es zum Geschlechtsverkehr zwischen den beiden kam. Tatsächlich fehlt dieser Vorwurf in den Mails an den Pfarrer. Frau F. betont aber, sie habe schon im Juli 2003 der Beauftragten Beyer gesagt, dass der Pfarrer mit ihr geschlafen habe. "Ich stehe jederzeit schriftlich wie mündlich für Rückfragen/Stellungnahmen/Zeugenaussagen zur Verfügung", erklärt Frau F. schriftlich. Nur: Die Landeskirche macht keinen Gebrauch davon. In dem Verfahren, das folgt, wird der Pfarrer befragt, nicht aber die Frau.

Beyer meldet den Fall sofort der damaligen Personalreferentin Dorothea Greiner, heute Regionalbischöfin in Bayreuth. Greiner erhält auch die Information, dass Kerstin F. aussagen möchte.

Die Regionalbischöfin erklärt heute, sie habe damals "definitiv nicht gewusst", dass es zum Geschlechtsverkehr gekommen sein soll. Beyer darf sich, so die Order der Kirchenleitung, nicht erklären. Damit würde sie gegen die Verschwiegenheitspflicht verstoßen, sagt Landeskirchensprecher Johannes Minkus.

"Eine nicht unerhebliche Spende"

Am 23. Juli 2003 wird der Pfarrer zu den Vorwürfen angehört. Er gibt zu, eine Beziehung zu Kerstin F. unterhalten zu haben, wobei die "Initiative" doch "sehr stark von ihr" ausgegangen sei. Er sei da "hineingerutscht in ein Spiel der Kräfte, in dem zum Schluss die klare Linie verschwommen war". Die Landeskirche eröffnet im März 2004 ein Disziplinarverfahren, allerdings entscheidet sie sich für eine Light-Variante: Der Fall wird von einem Spruchausschuss verhandelt, der sich sonst mit Ehevergehen von Pfarrern befasst.

Dem Ausschuss gehört auch Helmut Völkel an, der heute Personalreferent der Landeskirche ist, und die Richterin Dorothea Deneke-Stoll, heute Synodalpräsidentin. Das Gremium "vermahnt" (so der Spezialausdruck) am 22. Juni 2004 den Pfarrer wegen Verletzung seiner Amtspflicht. Künftig soll er die gebotene Distanz zu seinen Gemeindemitgliedern wahren. Und er soll sich "umfassend" und "detailliert" bei Kerstin F. entschuldigen

Heute sagt Dorothea Deneke-Stoll, ein solches Verfahren habe sich bei "Fällen von weniger Gewicht" bewährt - "und damals wussten wir die ganze Dimension ja nicht". Nur: Hätte man nachgefragt, hätte man die Dimension erkennen können. Kerstin F. lebte 2003 in Südafrika - eine Anreise erschien offenbar zu aufwendig. Zum Telefon griff aber auch niemand. Dabei sagt Frau F.: "Natürlich wäre ich sogar gekommen!"

In der Bewertung des Spruchausschusses heißt es: "Weiterer Ermittlungen, insbesondere der Befragung der Geschädigten, bedurfte es nicht, da eine solche Befragung außer Verhältnis zu den auch im schlimmsten Fall zu erwartenden Rechtsfolgen stünde." Dem Pfarrer wird zugutegehalten, dass er die Vorwürfe "weitgehend eingeräumt" und bereit gewesen sei, "eine nicht unerhebliche Spende" zu leisten. Minkus sagt, der Mann habe 1200 Euro an einen Jugendschutzverein gezahlt.

Der Brief des Pfarrers kam bei Kerstin F. nie an. Wenn sie ihn erhalten hätte - sie hätte protestiert, sagt sie: drei Absätze, eine halbe Seite, keine Unterschrift - sieht so eine "detaillierte, umfassende" Entschuldigung aus? Einen Nachweis, dass der Brief tatsächlich abgeschickt worden ist, hatte auch das Landeskirchenamt nicht verlangt.

Erst im Frühjahr 2010 erfährt Kerstin F., dass es ein innerkirchliches Verfahren gegen den Pfarrer gegeben hat. Es sind die Wochen, in denen zahlreiche Missbrauchsopfer an die Öffentlichkeit gehen - auch bei ihr ist wieder präsent, was passiert ist. Sie durchforstet das Internet und stellt fest: Der Pfarrer ist immer noch im Amt, wurde sogar befördert. Wie konnte das sein?

Der Pfarrer ist inzwischen beurlaubt

Sie wendet sich an das ZDF. Die Mona-Lisa-Redaktion macht den Fall im Frühjahr öffentlich. Karla Sichelschmidt, seit 2005 Landeskirchen-Juristin, sagt heute, die Ermittler hätten damals im Auftrag der Kirche Frau F. anhören müssen, und aus heutiger Sicht "würde man auch kein Spruchverfahren wählen". Im Landeskirchenrat habe es, sagt Sprecher Johannes Minkus, zur Causa F. "stundenlange Fehler-Analyse-Gespräche" gegeben - "für uns war der Fall unglaublich lehrreich". Die Aufgaben der Ansprechstelle seien jetzt klarer definiert.

Und man hat inzwischen nachgeholt, was 2004 versäumt wurde: Kerstin F. zu befragen. 26 Zeugen, sagt Sichelschmidt, seien nun zu dem Fall gehört worden. In den nächsten Wochen entscheidet der Landeskirchenrat, ob der Fall neu aufgerollt wird.

Suspendiert wurde der Pfarrer allerdings auch im Frühjahr 2010 nicht. Er ist "auf eigenen Wunsch" beurlaubt. Beides sei eine "Untersagung des Dienstes", sagt Sichelschmidt. In der Gemeinde, in der der Pfarrer zuletzt tätig war, scheint man den feinen Unterschied allerdings bemerkt zu haben. Im August stand dort auf der Homepage, die Beurlaubung des Pfarrers habe "ausdrücklich keinen vorverurteilenden Charakter". Auf den Protest von Kerstin F. hin ist der Eintrag von der Seite genommen worden.

Kerstin F. hat inzwischen von der Landeskirche 5000 Euro Therapiekostenzuschuss erhalten; weitere 5000 Euro hat die Landeskirche zugesagt, als zinsloses Darlehen. Sie aber fühlt sich "hintergangen", spricht vom "Missbrauch nach dem Missbrauch". Die Landeskirche habe damals mit dem Pfarrer Absprachen zu ihren Ungunsten getroffen - so sieht sie das, keine Ermittlung, keine Entschädigung kann das ändern.

Das letzte halbe Jahr, wieder der Anlauf, Beweise für ihre Geschichte zu finden, der "Kampf mit der Institution", wie sie es nennt, hat sie Kraft gekostet. Ein Lichtblick war die Reaktion des Versorgungsamtes des Bezirks Oberpfalz. "Sie wurden Opfer von Gewalttaten", attestiert ihr das Amt - drei Wochen nach ihrem Antrag. "Das", sagt Frau F., "war für mich wie Durchatmen".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: