FBI deckt Skandal auf:Millionenbetrug - das Brooklyn-Komplott

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Der Millionenbetrug mit Holocaust-Entschädigungsgeldern bietet Stoff für jeden Krimi: Auswanderer aus Russland wurden gesucht und zu NS-Opfern gemacht. Der Schaden ist immens.

Moritz Koch

Es waren beklemmende Geschichten von Flucht und Verfolgung, dem Vormarsch der Nazis und von einem Leben im Untergrund. Ein Mädchen, das den Bomben der Deutschen entkam. Ein Junge, der im besetzten Kiew ausharrte. Ausschnitte des Holocausts, so glaubte man bisher. Doch offenbar waren die Geschichten übertrieben und zurechtgebogen, manchmal sogar schlicht erfunden. Täuschungen, die sich eine Betrügerriege einfallen ließ, um Geld aus dem Holocaust-Fonds zu erschleichen.

Fast 20 Jahre fälschte eine Betrügerbande in New York Lebensläufe von angeblichen NS-Opfern - vier Täter haben gestanden. (Foto: Panos Pictures / VISUM)

So jedenfalls heißt es in der erschütternden Anklage, die der US-Staatsanwalt Preet Bharara am Dienstag in New York erhob. Sie richtet sich gegen sechs Mitarbeiter des Holocaust-Fonds, unter ihnen ein früherer Abteilungsleiter, und elf Mittelsmänner, die Antragsteller für die falschen Entschädigungsforderungen rekrutierten. Insgesamt sollen die Betrüger 42 Millionen Dollar veruntreut haben. 16 Jahre lang trieben sie ihr Unwesen. Am Dienstagmorgen nahm die Bundespolizei FBI elf der Verdächtigen fest, fünf weitere befanden sich bereits in Gewahrsam. Vier von ihnen bekannten sich noch am Dienstag schuldig. Eine Verdächtige konnte sich dem Zugriff des FBI bisher entziehen.

Im Zentrum der Ermittlungen steht die Claims Conference, eine hochangesehene New Yorker Organisation, die Anträge auf Entschädigung prüft und genehmigt. Die Claims Conference wurde unmittelbar nach Gründung der Bundesrepublik errichtet, ihre Hilfsprogramme werden seitdem von Deutschland finanziert. "Wenn es eine Organisation gab, von der man erwarten konnte, dass sie gegen Habgier und Betrug immun ist, dann war das die Claims Conference, die jeden Tag Tausenden armen und alten Opfern der Naziverfolgung half", sagte Bharara. Gerade das macht die Vorwürfe so ungeheuerlich. Selbst das unbeschreibliche Leid der Holocaust-Opfer war nicht groß genug, um skrupellose Gauner abzuschrecken.

Die Claims Conference selbst brachte die Ermittlungen ins Rollen. Vor etwa einem Jahr fielen ihr zwei Anträge von vermeintlichen Holocaustopfern auf, deren Angaben sich stark ähnelten. Die Conference schaltete das FBI ein, das die Ermittlungen an sich zog. Inzwischen haben die Behörden ein genaues Bild davon gewonnen, wie die Betrüger vorgingen.

Die Angeklagten konzentrierten ihre Aktivitäten auf den Brooklyner Stadtteil Brighton Beach, auch Little Odessa genannt, weil dort viele Auswanderer aus der Ukraine leben. Über Anzeigen in russischsprachigen Zeitungen suchten sie nach Antragstellern für Entschädigungsforderungen. Wenn sie feststellten, dass deren Angaben nicht ausreichten, um an das Geld des Fonds zu kommen, bogen sie die Daten zurecht. Notfalls fälschten die Betrüger auch Geburtsurkunden und erfanden ganze Flüchtlingsbiographien.

Fast 6000 Antragsteller sollen sich so widerrechtlich bereichert haben. Einen Teil der erschlichenen Entschädigungen übergaben sie den Drahtziehern des Betrugs. Einige Empfänger wurden nach 1945 geboren, andere waren keine Juden.

Noch ist offen, ob die Staatsanwaltschaft ihre Anklage auf die Antragsteller ausweitet. Einige von ihnen wussten nach Angaben der Ermittler von den Machenschaften der Brooklyner Betrügerbande, andere waren ahnungslos und wurden verführt.

Die Claims Conference betont, dass der Betrug nur einen winzigen Teil der Entschädigungsforderungen ausmacht, die bisher gestellt wurden. So wurden in den vergangenen 20 Jahren 630 000 Anträge geprüft. Der Betrug umfasst daher lediglich ein Prozent der Anträge.

Als die jüdischen Organisationen im Laufe der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg realisierten, dass die von der Bundesrepublik vorgeschlagenen Entschädigungen bei weitem nicht ausreichten und auch nicht alle Holocaust-Opfer erfasste, trat die Claims Conference in harte Verhandlungen ein. Das Ergebnis waren zwei Sonderfonds. Aus dem ersten können seit 1980 jüdische NS-Opfer, die aus der ehemaligen Sowjetunion in den Westen emigriert sind, eine einmalige Summe von 2556 Euro als finanzielle Entschädigungsgeste für ihr Leiden erhalten. Aus dem zweiten Fonds können bedürftige "Schwerstverfolgte" aus Ost- und Mitteleuropa, die im KZ oder in besetzten Gebieten lebten, seit 1992 eine monatliche Beihilfe von derzeit 291 Euro beziehen.

Die Betrüger hatten es auf beide Programme abgesehen. 18 Millionen Dollar entwendeten sie aus dem ersten Topf, 24,5 Millionen Dollar aus dem zweiten. "Die Zahlungen der deutschen Regierung wurden von den Gierigen abgeschöpft und nicht wie vorgesehen an diejenigen ausgezahlt, die der Entschädigung würdig gewesen wären", sagte die Leiterin der FBI-Ermittlungen, Janice Fedarcyk. Im Falle des Mädchens, das angeblich vor den Bomben der Deutschen geflüchtet war, stellte sich heraus, dass sie Regierungsdokumente aus ihrer Schulzeit gefälscht hatte, um so Etappen einer Flucht zu belegen, die sie nie angetreten hatte. Der Mann, der sich als der Junge ausgab, der in Kiew vor den Nazis untergetaucht war, wuchs in Leningrad auf. Mit diesen Angaben zielte er auf die monatliche Beihilfe, die er mit der richtigen Ortsangabe womöglich nicht erhalten hätte.

Es waren vor allem die genauen Kenntnisse über den Ablauf des Prüfverfahrens, die es der Bande ermöglichten, fast zwei Jahrzehnte unentdeckt zu bleiben. Als Anführer des Betrügerrings haben die Ermittler Semen Domnitser identifiziert, der das zweite Entschädigungsprogamm leitete, bis er im Februar diesen Jahres entlassen wurde. Wann immer er gefälschte Dokumente benötigte, um die Fonds anzuzapfen, konnte er sich auf die Notarin Dora Grande verlassen. Domnitser, Grande und den übrigen Angeklagten drohen bei einer Verurteilung Geldstrafen von 250 000 Dollar und Gefängnisstrafen bis zu 20 Jahren. Zudem will die Claims Conference die veruntreuten Millionen zurückfordern.

Um Betrug künftig auszuschließen, hat die Organisation die Beratungsfirma K2 damit beauftragt, mögliche Schwachstellen bei der Antragsprüfung aufzuspüren und die Verfahren laufend zu überwachen.

© SZ vom 11.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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