Elite-Grundschule:Wettlauf der Sechsjährigen

Chinesisch von der ersten Klasse an, später noch spanisch oder französisch: Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder auf Elite-Grundschulen - und schreiben die Anmeldung schon vor der Geburt.

Corinna Nohn

Wahnsinn. Das war Maria Holzingers Reaktion, als sie von dieser Schule gehört hat, wo Erstklässler Englisch und Chinesisch lernen, in der zweiten Klasse auch noch Spanisch oder Französisch. "Wahnsinn", wiederholt die 36-Jährige und stellt zwei riesige Porzellanbecher mit Milchkaffee auf den Tisch, die Löffel mit Goldrand passen zu ihren glitzernden Ohrringen. "Ich wäre auch gern auf so eine Schule gegangen. Leider spreche ich nur deutsch und englisch", sagt die Marketingleiterin.

Probesitzen vor dem Schulanfang

Die Elternbeiräte staatlicher Gymnasien in München schlagen Alarm: Sie fürchten das Ende für die zusätzliche sozialpädagogische Betreuung.

(Foto: Frank Leonhardt/ dpa)

Sie wohnt in einem Dorf in Niederbayern, ihr Haus ist gelb verputzt und wirkt dezent zwischen den anderen himmelblauen und kirschroten Neubauten. Getrimmte Rasenflächen vor Ackerland, verkehrsberuhigte Straßen, Dorfidylle. Die alleinerziehende Mutter, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, fühlt sich hier wohl. Aber damit ihre fünf Jahre alte Tochter nächstes Jahr Chinesisch lernen kann, wird sie das Haus vermieten, ihren Job kündigen und nach München ziehen. Ist das Wahnsinn? Sie lacht und sagt nur: "Das ist schon ein Schritt."

Kinder bringen Vätern das Schachspielen bei

Maria Holzinger ist eine selbstbewusste, zielstrebige Frau: Ihre Karriere hat sie über den zweiten Bildungsweg geschafft, die Tochter alleine aufgezogen und schon eine Woche nach der Geburt wieder gearbeitet. "Lange" hat sie eine geeignete Schule gesucht, dann ist sie auf die "BIP Kreativitätsschulen" gestoßen. "Mit dem Malereimer hat das nichts zu tun", sagt sie, "Kreativität heißt für mich: Lösungen für Probleme finden". BIP steht für "Begabung, Intelligenz, Persönlichkeit", es gibt bereits BIP-Schulen in Ostdeutschland. Sie werben mit Fotos von Kindern, die Bücher binden oder ihren Vätern das Schachspielen beibringen, und mit dem Hinweis, das es 90 Prozent der Schüler später aufs Gymnasium schaffen - eine glückselig machende Verheißung für alle Eltern, die durch PISA-Studien verschreckt sind und die eigenen Kinder vor der Willkür des staatlichen Bildungssystems schützen wollen.

Es geht längst um mehr als die Frage, wie viele Stunden Väter und Mütter täglich ihren Kindern widmen. Welche Eltern haben nicht schon über jene "Zeitfenster" nachgedacht, in denen Kinder fremde Sprachen noch akzentfrei lernen können? Oder über den Zusammenhang zwischen Musizieren und Hirnentwicklung? Bilinguale Kindertagesstätten wie die "Little Giants", wo Betreuer "Mentoren" sind und die "Mission" lautet, aus Kindern "selbstbewusste, erfolgreiche" Menschen zu machen, haben lange Wartelisten. Privatschulen wie "Phorms Education", an denen zwei Drittel der Stunden in Englisch abgehalten werden und die Kinder Uniformen tragen, boomen. Sie sehen ihren "gesellschaftlichen Auftrag" darin, "die Bildungslandschaft durch bilinguale und hochwertige Schulen" zu bereichern. Überall klingt durch: Ihr Eltern seid Schuld, wenn nichts aus euren Kindern wird! Macht was!

Englischsprachiges Krabbelkind

Auch Maria Holzinger hat ihre Tochter als Krabbelkind in einer englischsprachigen Kindergruppe angemeldet, sie versucht "mitzunehmen", was dem Kind Freude macht. Aber sie zählt sich nicht zu jenen Eltern, die alles dafür tun, damit es ihren Kindern mal besser geht als ihnen selbst. Soziologen sprechen von Statuspanik: Die obere Mittelschicht orientiert sich an der Oberschicht, die untere Mittelschicht schottet sich nach unten ab. Maria Holzinger sagt: "Meine Tochter ist ein durchschnittliches Kind. Sie muss kein Abitur machen, um mich glücklich zu machen. Aber", und jetzt haut sie mit der Handkante auf den Tisch, "wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Und ich glaube, dass die BIP einen guten, gesunden Weg gefunden hat, die Kinder darauf vorzubereiten."

Tatsächlich versprechen die Kreativitätsschulen vieles, wovon alle Pädagogen träumen: zwei Lehrer und 22 Schüler pro Klasse, differenzierte Lerngruppen, Musik, Bewegung. Manche Passagen in dem pädagogischen Konzept könnten auch von Maria Montessori stammen, etwa, dass das Kind und seine Individualität im Mittelpunkt stehen. Aber die BIP-Schöpfer, das Pädagogenpaar Gerlinde und Hans-Georg Mehlhorn, schreiben auch solche Sätze: "Die meisten Menschen scheitern nicht am Können, sondern am Fleiß." Oder: "Der erste Tag des ersten Schuljahres und auch der Schulzeit beginnt mit Unterricht und nicht mit Aufarbeitung der Kindergartenzeit."

Maria Holzinger zuckt mit den Schultern, als sie diesen Satz hört. Angst, dass das Konzept ihrer Tochter zu viel abverlangen könnte, hat sie nicht. Dabei umfasst der Stundenplan bereits in der ersten Klasse 35 Wochenstunden - ohne die freiwilligen Arbeitsgemeinschaften. Wer will, kann seine Kinder bis 18 Uhr betreuen lassen, auch in den Ferien gibt es Programm. "Ich glaube, man unterschätzt die Kinder", sagt Maria Holzinger. "Wichtig ist, dass sie Spaß haben bei dem, was sie tun." Sie hat extra eine BIP-Schule in Berlin besucht: "Die machen, was sie versprechen, ohne elitär zu sein. Die Kinder hatten ihre Malsachen in Schuhkartons, und keiner kam mit dem Rolls-Royce vorgefahren. Das wirkte auf mich alles sehr authentisch."

Eltern bekommen Rückenschmerzen

Besonders überzeugend findet sie den Mann, der die BIP-Schule nach München holen möchte: Raffaele Salerno, der Sätze sagt, die auf verunsicherte Eltern wirken wie Johanniskraut: "Wir nehmen die Kinder ernst und fördern sie sehr individuell. Wir behandeln jedes Kind so, als ob es hochbegabt sei." Er lässt sich auch vom Geschrei seiner zwei tobenden Töchter nicht aus der Ruhe bringen. Interessierte Eltern empfängt er im Schwabinger Familienzentrum, das er mitgegründet hat - ein Altbauraum mit Ikea-Leuchten an der Decke und bunten Vorhängen an der Scheibe. Nicht gerade das, was man von einer Privatschule erwartet, murmelt ein Besucher. Es gibt einen Wickelraum, kein Büro, und Eltern können Tee oder Wurstbrote mitbringen.

Neues Schuljahr in Hessen beginnt

Eltern wollen ihren Kindern alle Möglichkeiten offen halten. Die Elite-Grundschule scheint da der richtige Weg zu sein.

(Foto: dpa)

Raffaele Salerno hat Frikadellen dabei und erzählt, wie er und seine Frau, eine Erzieherin, sich schon Sorgen um die Förderung ihrer Kinder gemacht haben, als seine fünfjährige Tochter noch nicht geboren war. Sie schauten sich in ganz Deutschland um und fanden BIP. "Natürlich bringen die Kinder bei uns Höchstleistung - aber aus ihrer eigenen Motivation heraus." Ihm sei der Gedanke zwar auch unangenehm, dass seine Töchter so viel Zeit in der Schule verbringen werden. "Da muss man eben abwägen, was einem lieber ist: dass ich die Kinder den ganzen Tag für mich habe? Oder dass sie die Jahre optimal für sich nutzen?"

Die optimale Bildung hat ihren Preis. Für die BIP in München müssen die Eltern bis zu 800 Euro monatlich zahlen. Doch die ersten 88 Plätze sind längst ausgebucht, und es gibt zig Voranmeldungen für die folgenden Jahre. Eine Mutter hat ihr noch ungeborenes Kind für das Schuljahr 2016/2017 angemeldet. Wer sein eigenes Kind in eine harmlose Spiel-und-Spaß-Krippe oder Regelschule schickt, bekommt da fast ein schlechtes Gewissen. "Natürlich kann man diesen Eltern keinen Vorwurf machen, erst recht, wenn sie es sich nicht leisten können", sagt Raffaele Salerno. Um dann mit diesem sanften Tonfall, in dem er auch über die Erkenntnisse der Hirnforschung spricht, hinzuzufügen: "Ganz reell muss man aber sagen: Diese Eltern rauben ihren Kindern Chancen."

Wer will sich schon später so einen Vorwurf machen müssen? Entsprechend ist der Saal voll, als sich BIP-Gründer Hans-Georg Mehlhorn an einem Freitagabend in einem Münchner Seniorenzentrum den Fragen interessierter Eltern stellt. Knapp 70 Mütter und Väter sitzen vor dem Pädagogen und lauschen fast andächtig den Anekdoten von fröhlichen Kindern, die auch in der Pause Schule spielen. Nur als der Wissenschaftler berichtet, dass Kinder bei BIP mit einem halben Fehler nur die Note "gut" erhalten, weil sie dann sorgfältiger auf i-Punkte oder Kommata achten, flüstert eine Frau: "Das ist mir zu pingelig."

Dass es sinnvoll und notwendig ist, seinem Kind mit sechs Jahren Chinesisch und Schach beizubringen, zweifelt an diesem Abend keiner an. "Wann hat man denn die Möglichkeit, die drei großen Weltsprachen so einfach zu erlernen wie in diesem Alter?", fragt Raffaele Salerno. Auf der Regelschule verstreiche einfach zu viel Zeit ungenutzt. "Der Staat zwingt uns doch zur Zwei-Klassen-Bildung."

Bildung ist mehr als die Verknüpfung von Gehirnzellen

Hat er nicht recht? Insgeheim beneidet man doch jeden, der das Glück hat, zweisprachig aufzuwachsen. Und eigentlich wünscht sich doch jede Mutter, jeder Vater genau das, was Raffaele Salerno für seine Töchter will. Andererseits ist da dieses Entsetzen, dieses Gefühl, dass Bildung und Erziehung mehr sind als die Verknüpfung von Gehirnzellen, und dass man doch keine Rabenmutter sein kann, nur weil man einem Kind zumutet, erst mal nur eine Sprache zu lernen.

Vielleicht kann man das Dilemma mit einem Besuch im Zoo vergleichen: Damit sie die Fütterung der Seehunde besser sehen können, heben zuerst ein paar Väter ihre Kinder hoch, bald sitzen alle Kinder auf den Schultern ihrer Eltern. Sie sehen wieder genau so viel wie am Anfang, aber die Erwachsenen bekommen jetzt Rückenschmerzen. Es wäre besser gewesen, wenn die Eltern anfangs ein paar Schritte zurückgetreten wären und die Kinder vorgelassen hätten.

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