Bilanz der Missbrauchsbeauftragten:"Der Bedarf ist größer als angenommen"

Der jüngste Anrufer war acht Jahre: Missbrauchsbeauftrage Christine Bergmann zieht Bilanz über ihre Arbeit - und fordert, die unabhängige Anlaufstelle dauerhaft zu etablieren.

Susanne Klaiber, Berlin

Betroffene haben offensichtlich nur auf eine Anlaufstelle gewartet. Seit April ist Christine Bergmann die Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs und seitdem wird ihre Stelle mit Anrufen und Briefen nur so überschwemmt.

Kampagne gegen sexuellen Kindesmissbrauch

Missbrauchsbeauftragte Christine Bergmann: 8200 Anrufe sind eine "beachtliche Zahl."

(Foto: dpa)

Wie Bergmann am Donnerstag in Berlin mitteilte, sind bisher 8200 Anrufe und Briefe eingegangen. "Das ist eine ganz beachtliche Zahl", sagte sie. Seit Start der Medienkampagne "Sprechen hilft" vor zwei Monaten habe sich die Zahl der Anrufe und Briefe verdoppelt. Mit dem Slogan "Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter", wurden darin Betroffene ermutigt, sich bei der Stelle der Missbrauchsbeauftragten zu melden.

Der Bedarf nach Beratung sei "weitaus größer als angenommen", erläuterte Bergmann weiter. Die Experten der Anlaufstelle seien teils so ausgelastet, dass nicht jeder Anrufer sofort durchkomme. Etwa ein Dutzend Ansprechpartner aus Sozialpädagogik, Psychologie und Medizin stehen den Betroffenen als Berater zur Verfügung.

"Die meisten bedanken sich für die Kampagne, dafür, dass ihr Leid anerkannt und enttabuisiert wird", sagte Bergmann. Dass andere durch die Kampagne ungewollt wieder an die schreckliche Vergangenheit erinnert wurden, "müssen wir auf unser Gewissen laden", sagte Bergmann. Allerdings bedeutet nicht jeder Anrufer einen neuen Fall. Wie Bergmann sagte, riefen einige Betroffene mehrmals am. "Sie suchen das Gespräch zur Überbrückung von Wartezeiten für eine Therapie."

Was die Anrufer bewegt, hat Jörg Fegert ausgewertet, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychatrie an der Uniklinik Ulm. Analysiert wurden allerdings nur die Daten von Betroffenen, die mit der Auswertung auch einverstanden waren.

Demnach berichten Frauen häufiger über Missbrauch im familiären Umfeld, Männer über Missbrauch in Institutionen. Bei den Institutionen handele es sich am häufigsten um Einrichtungen der katholischen Kirche (31 Prozent), gefolgt von Schulen (24 Prozent) und Heimen (22 Prozent), teils auch in kirchlicher Trägerschaft der evangelischen Kirche (12 Prozent). Der jüngste Anrufer war acht Jahre, die älteste Anruferin 81 Jahre alt.

Henning Stein, Vater eines seinen Angaben nach mehr als 60 Mal missbrauchten Kindes, sagte bei der Pressekonferenz, nach Gesprächen mit anderen Betroffenen sei er zu dem Schluss gekommen, dass zwar die Orte und Institutionen, in denen Missbrauch stattgefunden habe, sich unterschieden. Die Mechanismen, mit denen der Missbrauch ausgeübt werde, glichen sich. "Wir müssen daran arbeiten, dass diese Parallelwelten - Kirchen, Einrichtungen, Heime, Schulen, Insitutionen, Vereine - in denen der Missbrauch allzu oft geschieht, keine eigenen Spielregeln mehr beanspruchen können", sagte Stein.

Die meisten Fälle, über die die Berater informiert wurden, liegen in der Vergangenheit, etwas mehr als zehn Prozent sollen aktuell sein. Bei mehr als der Hälfte der Fälle sieht Fegert nicht nur einen einmaligen, sondern einen "chronischen" Missbrauch.

"Das Thema darf nicht wieder verschwinden"

Wie Fegert erläuterte, haben 62 Prozent der Betroffenen keine Strafanzeige gegen die mutmaßlichen Peiniger gestellt - vor allem deswegen, weil sie verjährt waren. Nicht wenige fürchteten sich seiner Erfahrung nach auch davor, sich einem Gutachter zu stellen, der ihre Glaubwürdigkeit für das Gericht testet. In der Regel würden nämlich die Betroffenen begutachtet, nicht die Täter. "Das wird als demütigend empfunden, vor allem, wenn dann Zweifel an der Glaubwürdigkeit bleiben", sagt Fegert.

Weil viele der Anrufer den Wunsch geäußert hatte, dass Betroffene auch mit Mitgliedern des Runden Tischs "Sexueller Kindesmissbrauch" sprechen können, hatte die Missbrauchsbeauftragte Bergmann am 10. November ein solches Treffen organisiert, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand.

Gabriele Gawlich hatte als Betroffene diesem Gespräch beigewohnt. Sie äußerte sich allerdings enttäuscht darüber, dass die Hälfte der Mitglieder des Runden Tisches nicht teilgenommen hätte. "Es ist ein Zeichen, wie stark man an dem Thema interessiert ist", sagte Gawlich. Sie kritisierte, dass Betroffene noch immer von der Gesellschaft allein gelassen würden.

"Wir sind keine Randgruppe, sondern Teil der Gesellschaft", sagte sie und forderte, dass Betroffene künftig in alle Gremien einbezogen werden müssten. Außerdem plädierte Gawlich dafür, die Stelle der Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten dauerhaft zu etablieren. Eine unabhängige Anlaufstelle hält auch Bergmann für notwendig. Sie sagte. "Das Thema darf nicht wieder verschwinden. Es ist nicht angenehm, aber wir müssen uns dem aussetzen, wenn wir unsere Kinder schützen wollen."

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