Massimo Carlotto: Der Flüchtling:Von der Seele

Elf Prozesse, 86 Richter, Terrorismus-Hysterie und die Unfähigkeit der Behörden: In dem Buch "Der Flüchtling" schildert der italienische Krimiautor Massimo Carlotto seine siebzehnjährige Odyssee als Opfer eines Justizirrtums.

Maike Albath

In Italien gibt es eine Carlotto-Gemeinde. Eine Gruppe von Lesern, die alles wahrnimmt, was der Schriftsteller Massimo Carlotto macht, die seine Webseite nutzt, im Forum mit ihm diskutiert, zu den Aufführungen seiner Theaterstücke geht und seine Lesungen besucht. Und natürlich seine Romane kauft, von denen es mittlerweile mehr als ein Dutzend gibt. Carlottos Krimis mit dem Privatdetektiv "Der Alligator", einem knallharten Ermittler mit guten Kontakten zur Unterwelt, sind Bestseller. Die Keimzelle all dessen ist ein autobiographisches Zeugnis, das im Original 1994 erschien und jetzt auf Deutsch vorliegt: "Der Flüchtling".

Massimo Carlotto

Opfer eines Justizirrtums: Krimiautor Massimo Carlotto.

(Foto: Getty Images)

Denn Massimo Carlotto ist nicht irgendwer. Sein Schicksal zählt zu den spektakulärsten Fällen der italienischen Justizgeschichte, bei dem eine komplizierte Faktenlage, Terrorismus-Hysterie und Unfähigkeit der Behörden eine Rolle spielten. Elf Prozesse und sechs Jahre Gefängnis brachte der Autor hinter sich, 86 Richter und fünfzig Gutachter waren mit dem caso Carlotto befasst, dessen Akten 96 Kilo wiegen und mehrere Kisten füllen. Aber Massimo Carlotto ließ sich nicht klein kriegen, und auch deshalb ist er heute so etwas wie ein Held.

Carlotto stammt aus Padua, wo die Politisierung nach den furchtbaren stragi di stato, den geheimdienstlich unterstützten, neofaschistischen Terroranschlägen Mitte der siebziger Jahre besonders radikal war. Der damals 19-jährige Student gehörte zur linksextremen Lotta continua. Als er im Januar 1976 eine junge Frau auffand, die an 59 Messerstichen zu verbluten drohte, rannte er zur nächsten Carabinieri-Station, erstattete Meldung - und geriet unter Mordverdacht. Aus Mangel an Beweisen folgte 1978 ein Freispruch, der einige Monate später aufgehoben wurde. Achtzehn Jahre Zuchthaus lautete nun das Urteil.

Nach der Ablehnung des Revisionsantrags 1982 floh Carlotto nach Frankreich, tauchte unter und setzte sich nach Mexiko ab, wo er endgültig eine neue Identität annehmen wollte. Sein Anwalt verpfiff ihn bei der Polizei, Carlotto landete im Gefängnis, stellte sich der italienischen Justiz und kehrte 1985 in seine Heimat zurück. Der inzwischen schwerkranke Mann sah sich erneut einem langwierigen Hin und Her von Prozessen, Gefängnisaufenthalten, Verurteilungen und Wiederaufnahmen ausgesetzt, bis er 1993 vom Staatspräsidenten Oscar Luigi Scalfaro begnadigt wurde.

Dies sind die Eckdaten seiner Biographie, die Carlotto in "Der Flüchtling" auf unspektakuläre Art und Weise ausbreitet. Dem Autor geht es in seinem Debüt nicht um die juristische Aufarbeitung des Falles, sondern vielmehr um die emotionalen Konsequenzen des jahrelangen Versteckspiels.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum Carlottos außergewöhnliche Geschichte eine Generationserfahrung auf den Punkt bringt.

Illegal

Auch deshalb erzählt er die Geschehnisse vom Ende her: Den Auftakt bildet seine Verhaftung in Mexiko-Stadt, wo er der Mitgliedschaft bei den Roten Brigaden bezichtigt wird. Dass er aus Italien wegging, war eine Kurzschlusshandlung und mehr dem Gefühl der völligen Ausweglosigkeit geschuldet als einem durchdachten Plan. In Paris wechselt Carlotto mehrfach Aussehen und Papiere, schlüpft von der Identität eines Angestellten in die eines Dozenten für Kunstgeschichte, gibt sich als italienischer Psychiater aus, als Kinovorführer spanischer Herkunft oder als englischer Computerspezialist.

Mit jeder neuen Figur ist ein Wohnungswechsel verbunden, der oft Hals über Kopf vonstatten geht. Die Aneignung eines fremden Lebenslaufs gestaltet sich quälend; Carlotto kann weder einer geregelten Arbeit nachgehen noch Wurzeln schlagen. Den einzigen Trost bieten Freundschaften. Eine Reaktion auf die erzwungene Unruhe ist eine übermäßige Lust am Kochen und Essen. Der gehetzte Mann verfällt einer regelrechten Fresssucht, die mit den Jahren zu einer Manie wird. Solange er in Paris ist, kommen seine Freundin Alessandra und seine Familie, die sein klandestines Dasein finanziert, mehrfach zu Besuch.

Voller Selbstironie

Die Entscheidung für Mexiko bedeutet einen dauerhaften Abschied, und seine Eltern fürchten, den Sohn nie mehr wiederzusehen. So freimütig Carlotto in seinen Darstellungen ist, so sehr vermeidet er jede Sentimentalität. Er schlägt einen kolloquialen Tonfall an, arbeitet mit wörtlicher Rede, ist voller Selbstironie und zielt nicht auf Mitleid, sondern schildert nüchtern seinen Zustand. Viel dramatischer als seine Lage sei die lateinamerikanischer Freunde gewesen, die aus politischen Gründen zur Flucht gezwungen waren.

Carlotto musste sich dieses Buch offenkundig von der Seele schreiben, um den Schrecken zu bannen und Platz für Neues zu schaffen. Wie sehr ihn die siebzehnjährige Odyssee zerrüttet hat, wird einem schon nach wenigen Zeilen klar. Gerade weil der Schriftsteller die Sphäre der Illegalität aus eigener Erfahrung kennt, traut man ihm heute die Rolle des unbestechlichen Beobachters zu.

In seinen Krimis dominiert die Grauzone: Skrupellose Kleinunternehmer aus dem Nordosten scheren sich nicht um den Leumund ihrer Geschäftspartner oder darum, ob das Geld aus den schwarzen Kassen der Mafia kommt. Damit vertritt Carlotto indirekt einen aufklärerischen Anspruch. Oft sind reale Begebenheiten, die er gründlich recherchiert, der Ausgangspunkt seiner Romane, und unermüdlich macht der investigative Schriftsteller auf die Unterwanderung der Wirtschaft durch das organisierte Verbrechen aufmerksam. Hoffnung auf Besserung gibt es allerdings selten, dazu scheint das Land viel zu verrottet.

In literarischer Hinsicht ist "Der Flüchtling" nicht sonderlich aufregend, viel interessanter ist, warum es für Italien ein wichtiges Buch war. Obwohl Carlottos Geschichte außergewöhnlich ist, bringt sie eine Generationserfahrung auf den Punkt. Es ist die Erfahrung, verkrusteten Strukturen ausgeliefert zu sein und rechtsstaatliche Grundsätze nicht einfordern zu können. Wer das überlebt, dem kauft man Geschichten ab.

MASSIMO CARLOTTO: Der Flüchtling. Roman. Aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Tropen bei Klett Cotta, Stuttgart 2010. 184 Seiten, 18,95 Euro.

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