Ken Follett: Sturz der Titanen:Die feurige Maud

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Trotz peinlicher Sexszenen auf Groschenromanniveau und wie Untertassen dahinfliegender Dialoge: Ken Folletts neuer Roman ist gut recherchiert und freundlich-sozialdemokratisch - einer Verfilmung im Öffentlich-Rechtlichen steht nichts im Weg.

Gustav Seibt

Wenn der neue Wälzer von Ken Follett den Erfolg seiner Vorgänger erreicht, dann wird "Sturz der Titanen" das Bild, das sich Millionen Leser von der europäischen Geschichte des Jahrzehnts zwischen 1914 und 1924 machen, ebenso prägen wie es "Die Säulen der Erde" und "Die Tore der Welt" für das englische Hoch- und Spätmittelalter geleistet haben. Wie macht Follett das?

Diesmal schreibt Ken Follett nicht über das Mittelalter sondern über die Zeit um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Immerhin ist es kein Phantasiemittelalter, weil das frühe 20. Jahrhundert so unendlich viel mehr Material für Folletts Recherchefleiß bietet. (Foto: Lübbe)

Zunächst: Er hat wieder gut recherchiert. Die historischen Tatsachen und Umstände, die der neue Tausendseiter erzählt und voraussetzt, stimmen. Selbst ein verwickelter diplomatischer Vorgang wie die Juli-Krise von 1914 nach dem Attentat von Sarajevo ist in den Grundzügen korrekt wiedergegeben, vor allem die schwankende Haltung Englands, das erst durch den deutschen Einmarsch in Belgien zur Entschiedenheit fand, wird treffend geschildert. Viel Verständnis zeigt der Erzähler dabei für die deutsche Seite, was unsere Urgroßväter, die unter der "Kriegsschuldlüge" litten, gefreut hätte. Ebenso knapp und sachhaltig erfährt der Leser die Zusammenhänge der deutschen Militärstrategie: Massive Attacke im Westen, hinhaltende Verteidigung im Osten: Man nannte es Schlieffen-Plan.

Bei der sozial- und sittengeschichtlichen Ausmalung der Bühne setzt Follett auf Kontrastwirkungen. Seine Handlung verschlingt die Schicksale einer walisischen Bergarbeiterfamilie, eines britischen Adelshauses, einer deutsch-österreichischen Diplomatendynastie und zweier russischer Brüder aus der Arbeiterklasse. Das erste Kapitel schildert den Arbeitstag eines Jungen, der an seinem dreizehnten Geburtstag zum ersten Mal in den Berg fahren muss, ins Inferno von Dunkelheit und Kohlestaub; schon das nächste Kapitel zeigt den Besuch König Georgs V. auf dem Landgut jenes Earls, dem die Grube gehört. Dort arbeitet die Schwester des Grubenjungen als Hausdienerin.

Solche immer dichteren Geflechte reichen im Voranschreiten der 42 Kapitel bis nach Berlin, Wien und Sankt Petersburg, ja bis Amerika: Eine Schwester des britischen Earls verliebt sich in einen deutschen Attaché; einer der beiden Russen landet auf einem Auswandererschiff, das ihn nach Amerika bringen soll, in einem englischen Hafen, wo er als Streikbrecher gegen die britischen Grubenarbeiter rekrutiert wird.

Es wäre mühselig, diese Verknüpfungen in allen Einzelheiten nachzuzeichnen; der entsprechende "Wikipedia"-Artikel ist wahrscheinlich schon in Arbeit. Entscheidend ist die Funktion der Handlung, nämlich ihre maximale Weiträumigkeit: Sie soll ein möglichst breites Gesellschaftsbild, vom Arbeiter bis zum König zeichnen, eine möglichst große geografische Ausdehnung, vom Winterpalast des Zaren bis zum Weißen Haus in Washington abstecken, und natürlich soll sie es erlauben, die Fronten zwischen den Kriegsparteien, also England einerseits und Deutschland-Österreich andererseits zu überspringen. Die Muster solcher komplexen Handlungen mit starken Rühreffekten bietet kanonisierte Hochliteratur des 19. Jahrhunderts, in England vor allem Charles Dickens; sein "Tale of Two Cities", die Geschichte der "Zwei Städte" Paris und London im Zeitalter der Französischen Revolution, entfaltet einen ähnlichen Verschlingungsreichtum an Schicksalen, nur dass Follett im Vergleich sorgfältiger arbeitet.

Die walisische Kohlengrube und der russische Eisenbahnbaubetrieb

Das Problem solcher riesenhafter Strukturen, die ein Maximum an historischer Information fassen sollen, besteht darin, dass zwar jede Einzelepisode möglich und wahrscheinlich ist, der Gesamtaufbau aber hochgradig erkünstelt wirkt. Darüber kann man sich entweder freuen - das Uhrwerk funktioniert! - oder den Kopf schütteln und wieder einmal Nietzsche zitieren: "Die Uhr schlägt, das Käuzchen ruft, da muss doch ein Zusammenhang bestehen." Die Wahrscheinlichkeit sichert Follett durch dokumentarische Einsprengsel wie diplomatische Depeschen oder Parlamentsreden, die sich eng an originale Vorlagen halten; selbst die Einblicke ins Denken von historischen Figuren etwa des amerikanischen Präsidenten Wilson oder des deutschen Generals Ludendorff sind quellennah gearbeitet.

Wie schon in seinen Mittelalter-Epen brilliert Follett vor allem als Technikhistoriker: Wie eine walisische Kohlengrube oder ein russischer Eisenbahnbaubetrieb funktionieren, erfährt man bis ins Detail, ebenso natürlich Hinreichendes über die Alltagsumstände der spätviktorianischen Zeit oder die Waffentechnik im Ersten Weltkrieg. "Sturz der Titanen" zeigt auf allen Ebenen die Reize eines Baukastens für große Jungs: Weltmaßstab, Präzision, spannende Handlungsgänge und, nicht zu vergessen, alle dreißig Seiten ein genüsslich ausgemalter Geschlechtsakt.

Die Crux der meisten historischen Romane ist, dass sie heutige Leser zur Einfühlung in ferne Epochen bringen wollen und dafür die Vergangenheit vor allem seelisch unzulässig modernisieren. Dabei kommt im günstigsten Fall heraus, dass die dargestellten Menschen der Vergangenheit zwar nicht ganz dasselbe denken und tun wie wir Leser, aber immer dasselbe fühlen; sie sind Fleisch von unserem Fleisch. Der Follett-Leser darf sich fühlen wie Billy, der Bergarbeiter, der es bis zum Labour-Abgeordneten bringt, und die Leserin darf mit der feurigen Maud fiebern, die insgeheim einen deutschen Feind noch am letzten Friedenstag geheiratet hat. Dazwischen ist er Georg V., Winston Churchill oder Kaiser Wilhelm II.

Ein deutsch-österreichisch-britisch-russisches Epos zu Erstem Weltkrieg

Und das geht natürlich nicht, beziehungsweise Follett ist bei aller handwerklichen Geschicklichkeit solchen Aufgaben nicht gewachsen. Der Kollege aus der Redaktion, der dem zu Hause arbeitenden Rezensenten diese tausend Seiten andiente, verlockte ihn nach einem Blick auf den Klappentext: So ein deutsch-österreichisch-britisch-russisches Epos zu Erstem Weltkrieg und Oktoberrevolution wirke doch wie eine Melange der Welten von Joseph Roth, Ford Madox Ford und Boris Pasternak. Tja.

Immerhin ist es kein Phantasiemittelalter, weil das frühe 20. Jahrhundert so unendlich viel mehr Material für Folletts Recherchefleiß bietet. Die psychologischen Anachronismen sind nicht ganz so krass wie in "Säulen der Erde". Und so gleicht "Sturz der Titanen" auch eher einem heute vergessenen Roman, Upton Sinclairs "Weltende", dem ersten Band des Lanny-Budd-Zyklus, der zwischen 1913 und dem Versailler Vertrag 1919 spielt und dessen junger amerikanischer Held wie von Zauberhand an allen historischen Knotenpunkten dabeisein darf.

Folletts Stil aber ist eher noch eine Spur eintöniger als Sinclairs vergilbtes, leicht parfümiertes Amerikanisch. Die vielen Sex-Szenen haben das peinliche Niveau von Groschenromanen, die es ja noch geben soll, und viele Dialoge brettern wie fliegende Untertassen über die Mondlandschaften der Information, um Vladimir Nabokov zu bemühen.

Der Standpunkt des Buches ist freundlich-sozialdemokratisch: Reformwilligen pazifistischen Arbeitern und emanzipatorischen Frauen gehört die Zukunft, die starrsinnige Adelige und kommunistische Revolutionäre gleichermaßen verfehlen. Einer Verfilmung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen steht also nichts im Wege.

KEN FOLLETT: Sturz der Titanen. Die Jahrhundert-Saga. Aus dem Englischen von Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher. Bastei Lübbe Verlag, Köln 2010. 1022 Seiten, 28 Euro.

© SZ vom 11.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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