Wikileaks und Weihnachten:Geheimnis und Mysterium

Julian Assange tritt auf wie der Prophet eines neuen Zeitalters, er ist ein profaner Missionar der Wahrheit mit Märtyrertouch. Mit Wikileaks versucht er, Geheimnisse der Macht aufzudecken. Weihnachten aber ist das Geheimnis der Ohnmacht.

Heribert Prantl

Der Mann tritt auf wie der Prophet eines neuen Zeitalters. Er hält Reden an "die Welt" und fordert "die Welt" auf, seine Arbeit und seine Leute zu schützen. Seine Arbeit besteht darin, vertrauliche und geheime Papiere im Internet öffentlich zu machen; und alle, die bei dieser Tätigkeit mithelfen, sind "seine Leute". Die Wirkung, die Julian Assange und seine Organisation Wikileaks mit dieser Arbeit erzielen, ist bemerkenswert: Assange stürzt zwar nicht die Mächtigen von ihrem Thron, aber er rüttelt daran.

WikiLeaks founder Julian Assange speaks to the media outside Ellingham Hall in Norfolk, England

Die Wirkung, die Julian Assange und seine Organisation Wikileaks mit dieser Arbeit erzielen, ist bemerkenswert: Assange stürzt zwar nicht die Mächtigen von ihrem Thron, aber er rüttelt daran.

(Foto: Reuters)

Die Dinge hinter den Dingen

Der Mann wird deswegen von den einen gehasst und von den anderen gefeiert. Er ist ein profaner Missionar mit Märtyrertouch. Die staatliche Verfolgung, die er wegen echter oder angeblicher privater Verfehlungen zu erleiden hat, gilt seinen Anhängern als die Rache der Mächtigen. Die Anhänger nehmen diese Verfolgung daher zum Anlass für die Seligpreisung ihres Idols. Er ist ihr Evangelimann: Selig sind die, die Verfolgung leiden um der Wahrheit willen.

Julian Assange hat die Fähigkeiten, die Mittel und Möglichkeiten, Verdecktes aufzudecken. Mit eben diesen Gaben wird im Alten Testament der Prophet Daniel beschrieben - der deswegen zu König Belsazar gerufen wurde. Belsazar hatte bei seinem Festmahl den geraubten Jerusalemer Tempelschatz entweiht, worauf eine geheimnisvolle Schrift an der Wand erschienen war. Das "Menetekel" wurde sodann von Daniel entschlüsselt: Die Tage der Herrschaft des Königs Belsazar seien von Gott gezählt, der König sei von ihm gewogen und für zu leicht befunden worden, sein Reich werde zerfallen. In der Nacht wurde Belsazar umgebracht. Das im Menetekel angekündigte Schicksal erfüllte sich also.

Im Unterschied zum Propheten Daniel entschlüsselt Julian Assange nichts, er entdeckt nicht eine Botschaft hinter dem Text, den er veröffentlicht; er veröffentlicht ihn nur, nichts weiter. Wenn irgendwo wirklich ein Menetekel geschrieben stünde - Wikileaks würde es einfach ins Internet stellen; enträtseln müssten es dann andere. Wikileaks entdeckt nicht die Dinge hinter den Dingen, zieht aber die Dinge ans Licht. Wikileaks ist der Geheimdienst der Internet-Gesellschaft, der die Betriebsgeheimnisse von Staaten und ihrer Militärs veröffentlicht und damit auch ihre Lügen, Heucheleien oder Gemeinheiten aufdeckt, der aber selbst im Dunklen bleibt.

Wikileaks als "Wahr-Sager"

Wikileaks praktiziert eine Art von säkularisierter Prophetie: "Wahrsagen" im Wortsinn; die "Wahrheit" soll an den Tag. Es wird dabei nichts geweissagt und nichts verheißen. Die Kritik an der Vergangenheit und der Gegenwart besteht allein in der Entdeckung ihrer kleinen und großen Abgründe, in der Aufdeckung ihrer Geheimnisse, die bisweilen auch nur Banalitäten sind. Damit verbindet sich die vage Hoffnung, die Welt könnte auf diese Weise wahrer und besser werden. Es ist dies eine fast religiöse Hoffnung, weil die Erfahrung lehrt, dass die Entdeckung des Geheimen vor allem dazu führt, es noch besser zu verstecken.

Welche Wahrheit könnte Wikileaks über die Kirchen publizieren?

Welche Wahrheit könnte Wikileaks über die Kirchen und Religionsgemeinschaften publizieren? Es handelt sich um die ältesten institutionellen Mächte und um die mit den meisten Geheimnissen. Was gäbe es hier aufzudecken? Aufrufe zum Terror durch Imame? Noch mehr sexuelle Gewalt, verübt von katholischen Geistlichen? Noch mehr Doppelmoral, Unehrlichkeit und Frömmlerei? Noch mehr Bündnisse mit den Mächtigen in Geschichte und Gegenwart? Das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche hat sich vor zehn Jahren in einem öffentlichen Schuldbekenntnis für die Verbrechen entschuldigt, die Söhne und Töchter seiner Kirche im Namen Gottes je begangen haben. Es könnte auch aufgezeigt werden, dass immer noch Dinge gelehrt werden, die nicht durch die Bibel gedeckt sind: dass es sich, beispielsweise, bei der Jungfräulichkeit Mariens nicht nur um ein Dogma, sondern um einen Übersetzungsfehler handelt, um einen Lapsus freilich, der das Frauenbild über Jahrhunderte geprägt und Frauenschicksale Jahrhunderte hindurch verdammt hat. Aber das ist schon bekannt, es ist so bekannt wie die furchtbaren Irrtümer und Irrwege der Kirche.

Solche Entdeckungen und Entlarvungen haben dem menschlichen Bedürfnis nach Religiosität wenig anhaben können. Das gehört zu den größten Geheimnissen, die es gibt. Religion ist sozusagen Wikileaks-fest. Sie gründet auf Glauben, nicht auf Fakten. Religion birgt das absolute Geheimnis. Dieses Geheimnis entzieht sich der Aufklärung, es ist der Aufdeckung nicht zugänglich - nicht einfach nur deswegen, weil man es aus Angst vor der Leere dahinter nicht aufdecken will. Das Heilige, das Mysterium, beginnt dort, wo die Möglichkeit endet, Geheimnisse aufzudecken. Alle Versuche, Gott zu beweisen, waren deshalb so vergeblich wie die, ihn für tot zu erklären. Religion schafft und wahrt nämlich Geheimnisse, die um nichts in der Welt aufzulösen sind. Das ist ihr Wesen.

Weihnachten und das Göttliche

Das Weihnachtsgeheimnis ist das wohl geheimnisvollste dieser absoluten Geheimnisse. Es beginnt mit dem verheißungsvollen ersten Satz des Johannes-Evangeliums: "Und das Wort ist Fleisch geworden, und hat unter uns gewohnt." Der Satz ist nicht Menetekel, er ist Mysterium. Weihnachten ist das possierlich verkleidete Fest dieses Mysteriums. An Weihnachten feiern die Christen einen machtlosen Gott, sie feiern das göttliche Kind - also einen Gott, der sich klein und verletzlich gemacht hat, der nicht mehr allmächtig, sondern menschlich sein will, der Fürsorge braucht. Es ist dies eine Revolution von ganz oben: Die höchste Macht entmachtet sich, sie macht sich freiwillig ganz klein. Sie macht sich zum Opfer der Geschichte, den Menschen ähnlich und ihnen ganz nah; sie macht das mit, was dem menschlichen Leben widerfährt.

Wikileaks versucht, Geheimnisse der Macht aufzudecken. Weihnachten aber ist das Geheimnis der Ohnmacht und, vielleicht, das Geheimnis der Kraft, die aus Ohnmacht wachsen kann. Der heilige Franziskus, Oscar Romero, Dietrich Bonhoeffer und Martin Luther King haben gezeigt, wie das geht: Sie haben im Menschen das Göttliche gesehen und die Menschen auch dergestalt behandelt. Vielleicht kann man von ihnen lernen, wie das geht. Vielleicht kann man an Weihnachten damit beginnen - und in die Krippe also nicht ein Jesulein legen, sondern einen schwachen, einen geschlagenen, hilfsbedürftigen Menschen; jedes Jahr einen anderen.

Verkörperung der vollkommenen Hilfsbedürftigkeit ist heute weniger das ganz kleine Kind, sondern der ganz alte Mensch. Der Respekt vor den Kindern und der Respekt vor den Alten gehören zusammen. Alpha und Omega; es ist dies die Klammer, die das Leben umspannt. Vielleicht muss man in diesem Jahr das Kind aus der Krippe nehmen und die demente Greisin hineinlegen. Vielleicht beginnt man dann, das Weihnachtsmysterium zu verstehen.

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