Baden-Württemberg:Scharmützel um das bessere System

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Baden-Württemberg hat der Hauptschule ein neues Konzept verpasst - auch diese modernisierte Form dürfte im Wahlkampf kritisiert werden. Doch noch überlagert der Streit um Stuttgart 21 den Schulkrieg im Ländle.

Johann Osel

Ein kleines Licht soll entstehen hier im Klassenzimmer, während der Schneeregen draußen den Vormittag verdüstert. Die Kerze, platziert auf einem Podest aus Holz, gibt es aber nur auf den Monitoren der Schülerinnen. Es ist die Mädchengruppe der sechsten Klasse im Fach "Wirtschaft-Arbeit-Gesundheit", die derzeit nach Geschlechtern aufgeteilt ist. "Wir wollten sehen, ob sich da Hahnenkämpfe vermeiden lassen", sagt Lehrer Stephan Folger.

Im Landtagswahlkampf Baden-Württembergs hat der Streit um den Bahnhof Stuttgart 21 bisher dominiert. Doch auch bei der Bildung gibt es Unmut, hier eine Schüler-Demo Ende 2009 beim CDU-Parteitag. (Foto: picture-alliance/ dpa)

Doch auch ohne Jungen ist die Lautstärke enorm: "Herr Folger, Herr Folger", schallt es immer wieder, wenn eines der Mädchen Probleme hat mit der Software für technisches Zeichnen; andere sind bereits fertig, spechten auf den Nachbar-PC, schwätzen. Dennoch: Folger ist mit den Ergebnissen zufrieden, "technische Grundlagen muss man früh setzen, beim ersten Praktikum sollte schon was da sein".

Dieser Praxisunterricht gehört zum Konzept der Werkrealschule in Esslingen bei Stuttgart, ebenso die Mathe-Förderung ein paar Türen weiter. Dort wird in der Kleingruppe Prozentrechnen trainiert. Das gab es noch nicht, als die Hauptschule nur Burgschule hieß. Nun ruhen die Hoffnungen der Landesregierung auf dieser neuen Werkrealschule, einer von vielen im Land. Kultusministerin Marion Schick (CDU) will den Werkrealschülern ein "ihren Begabungen entsprechendes, passgenaues Bildungsangebot" machen.

Die Opposition äußert drei Monate vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg Zweifel daran. Andernorts gab es zuletzt hitzige Bildungswahlkämpfe, weil die Länder bei dem Thema den größten Gestaltungsspielraum haben, weil sich die Parteien hier am meisten unterscheiden, und weil Eltern auch Wähler sind. Es wäre also der Rahmen gesteckt für einen Schulkrieg, für eine Schlacht um das bessere System, wie im Mai 2010 in Nordrhein-Westfalen. Doch im Schatten des Protests gegen den Bahnhof Stuttgart 21 gerät Bildung nur mühsam zum Wahlkampfschlager.

Das Modell Hauptschule hat sich überlebt: In vielen Bundesländern gibt es sie nicht mehr als eigenständige Form, sie fusionieren mit Realschulen, im Osten sind sie ohnehin unbekannt. Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Hauptschüler um ein Fünftel zurückgegangen, die geburtenschwachen Jahrgänge beschleunigen den Trend. Und viele Eltern tun beinahe alles, um ihr Kind vor dieser Schule zu bewahren.

Übrig bleibt ein Ort für die Schwächsten - Stempel: Restschule. Mit deren Abschluss eine Lehre zu finden, früher durchaus Standard, wird immer schwieriger. Unionsregierte Länder, die am dreigliedrigen System aus Haupt-, Realschule und Gymnasium festhalten, flüchten sich in Modernisierungen - hier nun eben durch Werkrealschulen.

"Den Typus des schwächeren Schülers wird es immer geben, und dessen Probleme greift die Werkrealschule vom Konzept her schon richtig auf", sagt Klaus Hummel, Rektor der Esslinger Schule - wenngleich ihm eine Fusion von Haupt- und Realschule, also ein zweigliedriges System, lieber wäre als nur eine Aufwertung. Schon bisher konnte man nach dem Hauptschulabschluss noch die Mittlere Reife erwerben; dies soll im neuen Konzept der Regelfall werden. Die Schüler sollen fit für den Beruf werden, wählen Technik, Wirtschaft oder Gesundheit als Schwerpunkt, in Klasse zehn gehen sie zweimal pro Woche zur Berufsschule.

Hummels Schule liegt zwar im Speckgürtel Stuttgarts, hat aber viele Kinder aus Hartz-IV-Familien (ein Viertel bekommt fürs Mittagessen Gutscheine vom Amt), Migranten, Jugendliche aus betreutem Wohnen. Mit den Migranten gebe es kaum Probleme, sagt der Rektor, vielmehr mit den deutschen Kindern, die an der Hauptschule verbleiben. "Nach bisheriger Planung kämen nur wenige für eine Realschule in Frage." Nun gebe es die Chance, die "Leitwährung Mittlere Reife" zu bekommen. Ansonsten würden Hauptschulen die "Abstimmung mit den Füßen" verlieren, sprich wegen sinkender Nachfrage überflüssig werden.

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Die CDU preist die Reform als gelungen, 556 Werkrealschulen sind schon bewilligt. "Ich sehe da kein Feuer unterm Dach", hat CDU-Fraktionschef Peter Hauk auf die Frage nach einem Bildungswahlkampf einmal gesagt - kein Diskussionsbedarf. Dass Ministerin Schick das Konzept gut verkaufen kann, liegt auch an ihrer Person: Mit der Berufung der früheren Präsidentin der Fachhochschule München war Ministerpräsident Stefan Mappus im Februar ein kleiner Coup gelungen. Mit ihrem kommunikativen Stil taugt sie weniger als Feindbild für Kritiker als ihr Vorgänger Helmut Rau, dem zuweilen Borniertheit nachgesagt wurde. "Rau war am Schluss wie eine Betonwand, bei Schick ist es eher eine Gummiwand", sagt Renate Rastätter, bildungspolitische Sprecherin der Grünen.

Denn in ihrer Partei und in der SPD, die in Umfragen zusammen bei 48 Prozent liegen, sieht man dieses Feuer sehr wohl. "Die Werkrealschule ist der letzte verzweifelte Versuch, die traditionelle Struktur am Leben zu erhalten", sagt Rastätter. Drei "Begabungstypen" gebe es aber nun mal nicht, "30 Jahre doktert man nun schon an der Hauptschule herum".

Die Grünen wollen eine Gemeinschaftsschule, in der die Schüler bis Klasse neun oder zehn unter einem Dach wären und dort alle Abschlüsse erwerben können, mitunter auch Abitur. Ohne Großreform: Kommunen sollen entscheiden, welche Schulen sie benötigen, "Schulentwicklung von unten". Auch die SPD plant, das selektive System in ein integratives zu verwandeln. Ziel: Die zehnjährige gemeinsame Schulzeit - mit einer neuen individuellen "Lern- und Förderkultur", wie es heißt.

Von dieser Debatte bekommen Markus Böhm und Shannen Hampel wenig mit. Beide sind in der neunten Klasse in Esslingen und stehen kurz vor der Mittleren Reife. Dass der Ruf der Hauptschule schlecht ist, wissen sie nur zu gut. Gleichaltrige schauen öfter arrogant herunter, "die meinen, alle Hauptschüler wären dumm", sagt Hampel, die Goldschmiedin werden will. "Es gibt halt überall Leute, die keine Lust haben, was zu erreichen", erklärt sich Böhm das Vorurteil. Unverständlich sei aber, dass der Hauptschulabschluss allein gar nichts wert sein soll: "Ist ja auch ein Abschluss. Viel wichtiger ist, dass man sich für den Beruf interessiert, dass man sich reinhängt."

"Ist ja auch ein Abschluss"

"Zur Landtagswahl wird das Thema schon noch hochkochen", sagt Rektor Hummel. Neben der System-Frage könnten dann auch Umsetzungsprobleme zutage treten. "Das wurde teils mit heißer Nadel gestrickt." Schon das Lehramtsstudium sei auf Schwerpunkte wie Gesundheit gar nicht richtig abgestimmt.

Im ländlichen Raum staut sich derweil der Frust über Zusammenlegungen von Hauptschulen im Zuge der Reform. Eine Kommune, der das neue Konzept wegen zu geringer Schülerzahlen verwehrt wurde, zog vor Gericht. Bei manchen Eltern herrscht Unsicherheit, ob sie noch Schulen nahe am Wohnort haben werden, Lehrer sind wütend über Versetzungen, Schulleiter befürchten Degradierungen. Die Bildungsgewerkschaft GEW ließ eine Studie zur Entwicklung der Schülerzahlen erstellen und geht davon aus, dass auch viele Werkrealschulen bald nicht mehr genügend Schüler finden werden.

Bei Veranstaltungen in Ortsverbänden, in Gesprächen mit Lehrern und Eltern spüre man den Unmut, sagt die Grüne Rastätter. Die Hoffnung auf eine Großdebatte schwinde aber: "Alles wird überlagert von Stuttgart 21, da wirkt die Schulpolitik wie ein abgevespertes Thema." Rektor Hummel will der neuen Schulform "drei, vier Jahre Zeit" geben, zu einem längeren gemeinsamen Lernen sieht er keine Alternative. Werde schon im vierten Schuljahr getrennt, sei klar, wer als "Bildungsverlierer" übrigbleibt - Schüler aus schwierigem Milieu: eben jene, die mit einer aufgewerteten Hauptschule nun den Anschluss finden sollen.

© SZ vom 30.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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