Max-Planck-Gesellschaft:Blinde Flecken

Nach Jahren vorbildlicher Aufarbeitung geht die Max-Planck-Gesellschaft nun leichtfertig mit ihrer NS-Geschichte um, beklagen Historiker. Gegenstand der Kritik: der Jubiläumsband "Denkorte".

Christina Berndt

Bis in die 1980er-Jahre hinein war die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) ein Hort der Verdrängung. Gerne nahm sie für sich Errungenschaften und Nobelpreise ihrer Vorgängerin, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), in Anspruch. Dass deren Lenker und Wissenschaftler aber mit dem NS-Regime kollaborierten, überging sie weitestgehend.

Max-Planck-Gesellschaft

Beim Festakt anlässlich des 100. Gründungstags der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft", der Vorgängerorganisation der Max-Planck-Gesellschaft, spricht deren Präsident, Peter Gruss, in der Akademie der Künste in Berlin.

(Foto: picture alliance/dpa)

Erst im Jahr 1997 berief der damalige MPG-Präsident Hubert Markl gegen innere Widerstände in seiner Gesellschaft eine Historikerkommission ein. "Rückhaltlos" sollte sie die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus aufarbeiten. Und das tat sie: 17Bücher sind das Ergebnis der Forschungen von mehr als 40 Geschichtswissenschaftlern. Keine andere Wissenschaftsorganisation hat ihre Vergangenheit derart vorbildlich aufgearbeitet.

Nun beklagen zahlreiche Historiker, dass die MPG in ihrem Jubiläumsjahr 2011 hinter die damals gesetzten Standards zurückgefallen sei. Sie kritisieren einen Band namens "Denkorte", den die MPG zum 100. Gründungstag der KWG Mitte Januar über "Brüche und Kontinuitäten" der beiden Gesellschaften fertigstellte. Herausgeber sind MPG-Präsident Peter Gruss und der emeritierte Historiker Reinhard Rürup, der auch schon das Werk zur KWG im Nationalsozialismus herausgegeben hatte.

Von herausragend kritischer Aufarbeitung könne hier keine Rede mehr sein, sagt Rüdiger Hachtmann vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Weitere Fachleute üben Kritik an der Art der Darstellung und am Umgang der Redaktion mit den Manuskripten. Als Warnzeichen betrachten sie es, dass alle Texte den heutigen Institutsdirektoren vorgelegt werden mussten.

"Was ist das für ein Verständnis von Wissenschaft - ausgerechnet in einer Forschungsorganisation?", fragt Doris Kaufmann von der Universität Bremen, Projektleiterin der Präsidentenkommission. Dabei sei es "nicht um Zensur" gegangen, betont MPG-Sprecherin Felicitas von Aretin, "sondern darum, das große Wissen in den Instituten abzuschöpfen." Offenbar aber mussten einige Autoren um ihre Sicht der Dinge kämpfen. "Ich war kurz davor hinzuschmeißen, weil ich heftigen Widerstand gespürt habe, die NS-Geschichte klar akzentuiert zu benennen", sagt Wolfgang Eckart von der Universität Heidelberg, der über das Max-Planck-Institut für medizinische Forschung schrieb. "Die Verbrechen der Wissenschaft sollten eher kleingemacht gemacht werden gegenüber den Verdiensten."

Auch Moritz Epple und sein Mitarbeiter Florian Schmaltz von der Universität Frankfurt/Main haben sich zwar in ihrem Kapitel über das MPI für Dynamik und Selbstorganisation letztlich in allen Punkten durchgesetzt. Aber es habe Mühe gekostet, berichten sie. So schrieben sie, dass der Institutsgründer Ludwig Prandtl den NS-Staat begeistert für sich nutzte und die "Judenpolitik" rechtfertigte. "Bis heute hält sich im Institut aber offenbar auch die Auffassung, dass Prandtl unbelastet durch die Nazizeit gegangen sei", erzählt Epple. Einer der Institutsleiter, ein Physiker, fand den Beitrag denn auch zu scharf. Erst nach einer Reise ins Max-Planck-Archiv nach Berlin habe er sich überzeugen lassen. Ähnliche Kämpfe fochten weitere Autoren aus.

"Bei fast jedem Buch mit so vielen Autoren ist der Entstehungsprozess komplex", sagt MPG-Sprecherin von Aretin. Dass die MPG ihre NS-Vergangenheit beschönigen wollte, weist sie ebenso wie Präsident Gruss von sich: "Es ist mir ein großes Anliegen, das Verhalten der KWG während der NS-Zeit offen darzulegen", sagt er. Es sei "eine falsche Behauptung", dass die NS-Vergangenheit in den "Denkorten" nicht in aller Schärfe dargestellt werde. Schon der Ko-Herausgeber Rürup gewährleiste, "dass die Institutsporträts im Sinne der Ergebnisse der Präsidentenkommission korrekt dargestellt wurden."

Viele Historiker sind dennoch unzufrieden. So musste Rüdiger Hachtmann auf den Abdruck seines kritischen Kapitels über die Generalverwaltung verzichten. Die Machtzentrale der KWG/MPG sei eben kein Denk-Ort, teilte ihm die MPG-Pressestelle mit, die den Beitrag ursprünglich bestellt hatte. Hachtmann betont, dass die Generalverwaltung "das zentrale Scharnier zwischen der KWG als wissenschaftlicher Einrichtung und der politischen Außenwelt" gewesen sei. Ihre Verstrickungen in das Regime zeigen also gerade, dass an Nazi-Politik und -Verbrechen eben nicht nur "einzelne KWG-Wissenschaftler" beteiligt waren, wie es Präsident Gruss ausdrückt.

Besonderen Ärger unter Historikern erregt das Kapitel über das MPI für Psychiatrie in München und seine Vorgängerin, die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA). Leiter war von 1931 an Ernst Rüdin, den die MPG zu seinem Tod im Jahr 1952 noch als einen "der hervorragendsten Begründer der genetischen Forschung in der Psychiatrie" feierte. Inzwischen ist unbestritten, dass Rüdin schon 1903 für die Zwangssterilisierung psychisch Kranker war und diese als DFA-Leiter vorantrieb.

Dies hatte auch der Leiter des historischen Archivs am MPI für Psychiatrie, Matthias Weber, 1993 in einer Rüdin-Biographie geschrieben. In seinem Text in den "Denkorten" aber geht Weber nach Ansicht von NS-Experten nicht weit genug. Welche Rolle Rüdin bei der Tötung von Kranken im Rahmen der sogenannten T4-Aktion spielte, schreibt Weber dort, werde "kontrovers diskutiert". Die Quellenlage sei nicht eindeutig, ergänzt er auf Anfrage.

Euthanasie und andere Abscheulichkeiten

Das sei keine wissenschaftliche Kontroverse, widerspricht Doris Kaufmann. Rüdin habe die "Euthanasie" befürwortet und vorangetrieben, das sei längst durch Quellen belegt. So unterzeichnete Rüdin eine Denkschrift, in der er mit führenden "Euthanasie"-Befürwortern die Tötung von Patienten forderte.

Darüberhinaus hält Weber besonders abscheuliche Arbeiten von Julius Deussen an der Universität Heidelberg von seinem MPI fern. Deussen hat 52 geistig behinderte Kinder untersucht und einige dann persönlich in die Nähe von Wiesbaden gebracht, wo sie eine Überdosis Schlafmittel bekamen. Die Gehirne mancher Kinder nahm er zu Forschungszwecken mit zurück nach Heidelberg. Weber nennt Deussen "einen früheren Mitarbeiter" Rüdins; dieser habe Deussens Forschung lediglich "wohlwollend gegenüber" gestanden.

Tatsächlich aber habe Rüdin Deussens Verbrechen initiiert, gefördert und bezahlt, sagt der Gießener Medizinhistoriker Volker Roelcke. So existiert ein Schreiben Rüdins vom Oktober 1942 an den Reichsforschungsrat, in dem er auf einer Liste von Projekten, die er "als besonders dringlich erforscht sehen möchte", das Projekt skizziert, das Deussen dann ein Jahr später ausführt. Auch hat er Deussens Forschungen aus dem DFA-Etat mitfinanziert. Zudem sei Deussen, anders als Weber es darstellt, bis 1945 Mitarbeiter der DFA gewesen, wie ein Kündigungsschreiben vom August 1945 zeige. "Diese Fakten negiert Weber seit Jahren", beklagt Roelcke. "Und für seine Sicht hat er nie Quellen vorgelegt."

Weber entgegnet, diese Details änderten nichts an der Gesamtbeurteilung von Rüdin, auf den er als Erster mit dem Finger gezeigt habe: "Damals wurde ich auf Kongressen von älteren Kollegen als subversives Element beschimpft." Auch habe er die Akten über Rüdin gerettet, als diese Anfang der 1990er-Jahre beinahe vernichtet worden wären.

Doch der Fall Deussen bringe eine neue Dimension in die NS-Verbrechen der Wissenschaft, sagt Carola Sachse von der Uni Wien und Projektleiterin der Präsidentenkommission. Viele Forscher hätten menschliche Präparate aus Konzentrationslagern genutzt. "Deussen aber hat die Kinder selbst in den Tod geführt, das war Beihilfe zum Mord."

Diese Verbrechen vom KWI/MPI für Psychiatrie fernzuhalten und Rüdins Verfehlungen zu bagatellisieren, sei "Geschichtsklitterung", schimpft Wolfgang Eckart. "Das ist eine eklatante Falschdarstellung an der Grenze zum wissenschaftlichen Fehlverhalten." Wie Eckart stimmen ausgewiesene NS-Experten der Darstellung Roelckes zu. "Die Quellen sind eindeutig. Es geht nicht nur um Mitwisserschaft, sondern um Mittäterschaft", sagt Florian Schmaltz. Selbst der Herausgeber Reinhard Rürup stimmt ein: "Roelcke hat in der Sache Recht." Er habe aber "nicht mehr tun können, als den Autor auf bestimmte Dinge aufmerksam zu machen."

Für Moritz Epple fügen sich die "Denkorte" in einen breiteren Trend. "Man will vor allem wieder an die große Vergangenheit des eigenen Gebietes anknüpfen", sagt er. Auch in der Zeitschrift Max Planck Forschung würden unter der Rubrik "Rückblende" immer wieder wissenschaftshistorische Beiträge erscheinen, so Florian Schmaltz, die einzelne MPIs und deren Vorläufer in der KWG behandeln. "Die NS-Vergangenheit wird dabei zumeist einfach ausgeblendet."

Im Heft 03/2009 etwa widmet sich die "Rückblende" dem KWI und späteren MPI für Arbeitsphysiologie. Launig beschreibt die Autorin, wie Probanden dort vor dem Krieg für die Forschung besoffen Fahrrad fuhren. Nach dem Krieg sei unter anderem der Energieverbrauch von Hausfrauen ermittelt worden. Kein Wort aber von dem Großversuch an fast 7000 unterernährten Zwangsarbeitern in den Jahren dazwischen. Ziel war es, die Lebensmittelrationen gerade so zu bemessen, dass aus den Zwangsarbeitern bei möglichst wenig Nahrung möglichst viel Arbeitsleistung herauszuholen war. Auch Menschenversuche mit dem Psychopharmakon Pervitin werden in der "Rückblende" ausgeblendet.

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