Geplatzte Hartz-IV-Verhandlungen:Die Pflichtvergessenheit der Regierung

Schwarz-Gelb, Hartz IV und das große Scheitern: Es gibt ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Daraus ergibt sich die Grundpflicht der Politik, für dieses zu sorgen. Aber die Regierung war pflichtvergessen.

Heribert Prantl

Im Grundgesetz steht nicht, dass die Politik dem Bundesverfassungsgericht ewige Anbetung schuldet. Aber sie schuldet diesem Gericht ein ernsthaftes Bemühen. Und sie schuldet dieses ernsthafte Bemühen vor allem den sieben Millionen Armen in Deutschland, die auf Leistungen nach Hartz IV angewiesen sind, um Leben zu können - unter ihnen zwei Millionen Kinder.

Fortsetzung der Hartz-IV-Verhandlungen

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und der Geschaeftsführer der CDU-Fraktion, Peter Altmaier.

(Foto: dapd)

Ein Jahr nach dem großen Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist festzustellen: Es gibt dieses ernsthafte Bemühen nicht. Spät, viel zu spät hat Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen ein Gesetz vorgelegt. Spät, viel zu spät, hat sich die Bundeskanzlerin darum zu kümmern begonnen.

Die Richter in Karlsruhe hatten dem Gesetzgeber die Nachlässigkeit, die fehlende Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem Problem Armut austreiben wollen. Ein Jahr nach dem Urteil ist festzustellen: Die fehlende Ernsthaftigkeit hat sich von neuem erwiesen.

Es gibt ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Daraus ergibt sich die Grundpflicht der Politik, für dieses Existenzminimum zu sorgen. Aber sie war pflichtvergessen, nun ein geschlagenes Jahr lang. Sie hat die Anstrengung, die sie den Banken gewidmet hat, sie hat das Verantwortungsbewusstsein, das sie bei den Bankenrettung gezeigt hat, den Armen in Deutschland verweigert.

Dieser Vorwurf trifft weniger die Opposition, er trifft vor allem die Regierung. Sie hat sich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 erst einmal in einer absurden Diskussion verstrickt. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle hat der Diskussion über die Pflichten des Sozialstaats "sozialistische Züge" attestiert und von der Dekadenz des Sozialstaats schwadroniert. Es dauerte bis zum Herbst, es dauerte fast ein Dreivierteljahr, bis auch nur ansatzweise Substantielles auf den Tisch kam. Sie hat darauf vertraut, dass sie die Mehrheit im Bundesrat behält: Sie hat nicht damit gerechnet, dass in Nordrhein-Westfalen die Regierung wechselt.

Schwarz-Gelb hat taktiert: Die Regierung hat das Gespräch mit der Opposition erst dann gesucht, als es nicht mehr anders ging. Das Reden über einen Mindestlohn und über die zuträgliche Entlohnung von Leiharbeit - es sind die Themen, die SPD und Grüne in die Verhandlungen eingebracht haben - ist natürlich wichtig, weil der Mindestlohn mit Hartz IV ganz eng zusammenhängt: Die Einführung eines Mindestlohns ist der einzige Weg, um aus der Armutsfalle herauszukommen. Das haben ja mittlerweile auch die Union und die Kanzlerin eingesehen, aber sie haben nicht danach gehandelt.

Menschenwürdige Entlohnung der Leiharbeit und ein Mindestlohn, von dem man leben kann: Diese Punkte sind noch wichtiger als ein paar Euro Anhebung des Regelsatzes nach Hartz IV. Vielleicht wäre es ein Kompromiss, der aus den Verbohrtheiten beim Regelsatz herausführt, zusätzlich zu der Fünf-Euro-Anhebung eine fakultative Anhebung für einen bestimmten, besonders belasteten Personenkreis vorzusehen. Wie immer: Die Verhandlungsblockade muss schnell aufgehoben werden. Die gegenwärtigen Sozialleistungen nach Hartz IV sind verfassungswidrig - nicht seit einem Jahr, sondern, so hat das Gericht geurteilt, von Anfang an: seit mehr als sechs Jahren.

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