Italien: Flüchtlingswelle auf Lampedusa:Exodus der Revolutionäre

Diktator Ben Ali ist gestürzt - trotzdem fliehen die Tunesier zu Tausenden nach Italien. Die EU ist alarmiert, die tunesische Übergangsregierung versucht die Küste abzuriegeln. Die Regierung Berlusconi fordert scharfe Maßnahmen - Menschenrechtler sehen darin die "Speerspitze der Schändlichkeit".

Michael König

Wer es nach Lampedusa schafft, spreizt die Finger zum Gruß. Das Victory-Zeichen ist auf der italienischen Mittelmeerinsel dieser Tage allgegenwärtig, seit ein Boot nach dem anderen im Hafen landet und Tausende Menschen aus Tunesien das Eiland bevölkern. Obwohl sich die tunesische Armee mittlerweile bemüht, den Strom zu stoppen, sollen es mehr als 5000 illegale Einwanderer und Flüchtlinge nach Lampedusa geschafft haben. Damit hat sich die Inselbevölkerung in kurzer Zeit verdoppelt.

tunisian migrants

Fischerboot mit Flüchtlingen im Hafen von Lampedusa: Der Seeweg ist frei, aber ungefährlich ist er nicht.

(Foto: dpa)

Viele der Ankömmlinge haben siegreiche Tage hinter sich. Sie waren dabei, als Mitte Januar wütende Proteste in der tunesischen Hauptstadt Tunis den verhassten Präsidenten Ben Ali zur Flucht veranlassten. Sie machten den Menschen in vielen arabischen Ländern Mut und starteten eine Bewegung, deren Ende noch nicht abzusehen ist. In Ägypten floh nach langanhaltenden Protesten der Präsident Hosni Mubarak aus dem Amt. In Jemen hat Präsident Ali Abdullah Salih angekündigt, nicht erneut kandidieren zu wollen.

"Menschenverachtende Fluchtverhinderung"

Nach jahrzehntelanger Unterdrückung besteht in Tunesien und Ägypten nun die Chance auf einen demokratischen Wandel. Dennoch glauben viele, die diese Umstürze möglich gemacht haben, nicht an eine schnelle Besserung der Lage in ihren Heimatländern, die von Korruption und Armut geprägt ist. "Wir wollen nur die Möglichkeit, in Europa zu arbeiten", brüllen Menschen, die in Lampedusa landen, in die Fernsehkameras. "Unsere Revolution hat nichts geändert. Wir haben Angst."

Für Italiens südlichste Insel geht mit dem Ansturm der vergangenen Tage eine Phase relativer Ruhe zu Ende. Bis 2009 landeten jedes Jahr mehr als 20.000 Flüchtlinge und illegale Einwanderer auf der Insel, die nur etwa 100 Kilometer von der tunesischen Küste entfernt ist. Dann verpflichteten sich Libyen und Tunesien in Abkommen mit Rom, die Grenzen dichtzumachen - 2010 kamen nur noch ein paar hundert Flüchtlinge durch das "Tor zu Europa". Das Flüchtlingslager auf Lampedusa wurde geschlossen, die italienische Tourismuszentrale warb mit der "großen Einsamkeit" der Insel.

Damit ist es vorbei. Die "effiziente, aber menschenverachtende Fluchtverhinderung", wie Karl Kopp vom Europäischen Flüchtlingsrat die bisherige Kooperation der EU mit den nordafrikanischen Staaten nennt, ist mit dem Abgang des Despoten Ben Ali in Tunesien gescheitert.

Küstenwache und Militär sahen den Bootsflüchtlingen zunächst tatenlos zu, die sich auf die Überfahrt nach Lampedusa machten. Erst am Montagnachmittag meldete die staatliche tunesische Nachrichtenagentur TAP, die Übergangsregierung habe mehrere Fahrten verhindert und Kontrollpunkte in den Häfen von Gabès und Zarat installiert.

Berlusconis Furcht vor dem "Anziehungseffekt"

Der Seeweg nach Europa ist frei, ungefährlich ist er nicht: Weil die Flüchtlingsboote oft überladen und nicht hochseetauglich sind, kommen immer wieder Flüchtlinge ums Leben. Nach Angaben italienischer Medien ertranken kürzlich 29 Menschen, als ihr Boot von einem Schnellboot der tunesischen Marine gerammt wurde. Die Organisation Fortress Europe berichtet, im Jahr 2009 seien mindestens 283 Bootsflüchtlinge auf dem Weg ums Leben gekommen.

Tausende Tunesier lassen sich davon nicht abschrecken. Die genaue Zahl der Ankömmlinge auf Lampedusa ist umstritten; etwa 5000 sollen es sein, Tendenz steigend. Allein seit Samstagnacht seien es 1600 Menschen gewesen, berichten italienische Zeitungen. Am Montag wurden neue Boote gesichtet. Die Flüchtlinge campierten zunächst auf der Hafenmole, auf Parkplätzen und einem umzäunten Fußballplatz, weil sich die italienische Regierung zunächst weigerte, das Flüchtlingslager wieder zu eröffnen - sie fürchtete einen "erhöhten Anziehungseffekt".

"Speerspitze der Schändlichkeit"

Erst am Sonntag gab Ministerpräsident Silvio Berlusconi das Lager frei und erklärte außerdem den "humanitären Notstand", der es der Zivilschutzbehörde erlauben soll, "notwendige Maßnahmen zur Kontrolle des Phänomens" zu ergreifen. Welche Maßnahmen damit genau gemeint sind, sagte Berlusconi nicht.

Nachrichtenagenturen berichten, die Behörden hätten begonnen, die Menschen mit Fähren und Flugzeugen nach Sizilien zu bringen - aus Sorge darüber, dass sich Terroristen oder gewöhnliche Kriminelle unter den Flüchtlingen befinden können. Auf Sizilien befindet sich ein Abschiebelager - den Menschen dort droht die unfreiwillige Rückreise nach Tunesien. Italien habe keine Hemmungen, warnt der Menschenrechtler Karl Kopp vom Flüchtlingsrat: "Sie schicken Flüchtlinge sehenden Auges in die libyschen Haftlager Gaddafis zurück. In dieser Hinsicht ist Italien die Speerspitze der Schändlichkeit."

"Was wollen die Illegalen hier?"

Italiens Rechte bleibt von solchen Aussagen unbeeindruckt. "In Tunesien herrscht keine Diktatur mehr. Was wollen diese Illegalen also bei uns?", sagte die ehemalige Vizebürgermeisterin der Insel, Senatorin Angela Maraventano, die der rechtspopulistischen Partei Lega Nord angehört. Ihr Parteifreund Roberto Maroni, der italienische Innenminister, äußerte den kreativen Vorschlag, italienische Einsatzkräfte sollten vor der tunesischen Küste aktiv werden, um den "biblischen Exodus" einzudämmen. Er äußerte sich empört, dass sich die neue tunesische Regierung offenbar nicht mehr an das bilaterale Abkommen zur Begrenzung von Flüchtlingsströmen halte.

Die Antwort aus Tunis ließ nicht lange auf sich warten: "Tunesien lehnt kategorisch jede Einmischung in seine inneren Angelegenheiten ab", sagte ein Sprecher der Übergangsregierung. Ein Einsatz italienischer Beamter an den tunesischen Grenzen komme nicht in Frage. Man sei jedoch bereit, mit befreundeten Staaten zusammenzuarbeiten.

"Sicher keine Massenflucht"

Italiens Innenminister Maroni kann das nicht überzeugen - er appellierte an die EU, sie möge schleunigst die Grenzüberwachungsbehörde Frontex aktivieren. Die in Warschau angesiedelte "Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen" wurde 2004 gegründet, um den Grenzschutz der EU-Mitgliedsländer zu koordinieren. Kritiker werfen Frontex vor, bei Einsätzen auf hoher See Menschenrechte zu verletzen - so sei Flüchtlingen die Möglichkeit verwehrt worden, Asyl zu beantragen.

Offenbar geht die Regierung in Rom davon aus, dass der Flüchtlingsstrom so schnell nicht abreißt. Ob es sich tatsächlich um eine dauerhafte Entwicklung handelt, ist aber umstritten. "Das ist sicher keine Massenflucht biblischen Ausmaßes", sagt Karl Kopp vom Europäischen Flüchtlingsrat.

Das Berliner Büro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) teilte sueddeutsche.de auf Anfrage mit, dass die Zahl der illegalen Einwanderer in die EU nicht bekannt sei. Die Zahl derer, die Asyl beantragen, liege "ziemlich stabil" bei 250.000 bis 260.000. Eine verlässliche Prognose zu der Entwicklung in Italien könne man nicht abgeben.

Merkel lehnt Aufnahme ab

Auch außerhalb Italiens wächst indes die Sorge vor einem flächendeckenden Phänomen. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton weilt zu Gesprächen mit dem tunesischen Übergangsregierungschef Mohamed Ghannouchi in Tunis - dass es darin auch um die Flüchtlinge geht, ist höchst wahrscheinlich.

Die EU-Kommission zeigte sich angesichts der Situation auf Lampedusa alarmiert: "Die Kommission ist sich bewusst, unter welch außergewöhnlichem Druck Italien steht", sagte ein Sprecher der zuständigen EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Die EU habe der italienischen Regierung bereits am Samstag Hilfe angeboten, aber eine dankende Absage erhalten.

In Berlin sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, Deutschland werde keine Flüchtlinge aus Tunesien aufnehmen. Europa könne aber beim Aufbau eines Rechtstaates helfen. "Unser Ziel ist, die Probleme in den Heimatländern zu lösen, den Menschen dort eine Perspektive zu geben und ihnen damit auch eine Chance zu geben, in der eigenen Heimat leben zu können", sagte die CDU-Politikerin.

Zuvor hatte CDU-Außenpolitiker Philipp Mißfelder gesagt, man dürfe nicht glauben, "dass wir hier in Europa die Probleme Nordafrikas lösen können". Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes betonte hingegen, die Flüchtlinge auf Lampedusa seien ein Problem der gesamten EU. Es gelte, sie im Verbund zu lösen. Außenminister Guido Westerwelle bot Tunesien eine engere politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit an, um nach der "großartigen Revolution" für Stabilität zu sorgen.

Menschenrechtler Karl Kopp mahnt angesichts der hektischen Reaktionen der Politik zu Gelassenheit. Im Gespräch mit sueddeutsche.de sagte er: "Wenn man alle Flüchtlinge auf einer Insel hat, sieht es aus wie ein Notstand. Wenn man sie verteilt, ist es kein Problem, humanitäre Hilfe zu leisten."

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