Philip Roth: Nemesis:Krieg gegen Gott

Der Held in Philip Roth' neuem Roman "Nemesis" sieht hinter menschlichem Elend den perfiden Plan eines höheren Wesens, das nur "die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie" sein kann.

Christopher Schmidt

Bucky Cantor glaubt eigentlich nicht an Gott, doch das hindert ihn nicht daran, wie Hiob zu hadern. Denn das, was Menschen zu ertragen haben, ist so grausam, dass es nicht einfach nur Zufall sein kann. Es muss ein Plan dahinter stecken, ein Plan, den sich ein allmächtiges Wesen ausgedacht hat, um ihn, Bucky Cantor zu prüfen. Und dieses Wesen stellt er sich nicht als heilige Dreifaltigkeit vor wie im Christentum, sondern als "eine Zweifaltigkeit - die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie", schreibt Philip Roth in seinem neuen Roman "Nemesis".

Author Philip Roth poses in New York

Der 77-Jährige Philip Roth wird von Buch zu Buch nicht nur düsterer, sondern auch immer härter, schonungsloser. Sein Stil wirkt sehnig, ausgezehrt und von einer nachgerade unerbittlichen Erzählökonomie gestählt.

(Foto: REUTERS)

Als eine Polio-Epidemie in seiner Heimatstadt Newark ausbricht, sieht der 23-jährige Sportlehrer Bucky Cantor darin eine Heimsuchung. Tatenlos muss er mitansehen, wie die Kinderlähmung immer mehr Opfer fordert. Auch zwei der ihm anvertrauten Jungen sterben, und deren Eltern geben ihm die Schuld an ihrem Tod. Vollends greift die Paranoia um sich, als die Infektion von den ärmeren Vierteln in das bessere Weequahic vordringt, wo Bucky an den glutheißen Nachmittagen des letzten Kriegssommers 1944 die Aufsicht auf dem Sportplatz hat. Und diese Paranoia ist das zweite und noch verheerendere Virus, das in der Stadt wütet, und dasjenige, um das es Philip Roth in "Nemesis" geht.

Dass im Jahr 1944 noch nichts über die Übertragungswege der Polio-Krankheit bekannt war, ist die Voraussetzung des Buches, der blinde Fleck, der die Erzählung in Gang setzt und die Theodizee auf den Plan ruft, um dem Unbegreiflichen einen Sinn beizulegen. Hysterisch reagieren die Bewohner von Newark auf die immer größere Kreise ziehende Epidemie. Sind es die Mücken im Park? Ist es der Müll auf den Straßen? Die sengende Hitze selbst? Eltern holen ihre Kinder von der Straße, verbieten ihnen, sich der Sonne auszusetzen, die öffentlichen Trinkbrunnen zu benutzen und die Leihbücherei zu besuchen. Wer kann, flüchtet in die Berge oder ans Meer, nur fort aus der verfluchten Stadt. Ein Gammler, der alte, geistesschwache Horace wird attackiert und für die Ansteckung verantwortlich gemacht.

Als ein paar italienische Halbstarke am Sportplatz auftauchen und den Kindern Angst machen, indem sie demonstrativ auf den Boden spucken, um, wie sie sagen, die Seuche in deren bislang noch verschont gebliebene Gegend zu bringen, gelingt es Bucky, durch seine Entschlossenheit die Störenfriede zu vertreiben. Sein mannhafter Einsatz macht ihn zum Helden der Kinder, die ihn bisher schon als Lehrer und Sportskanone bewundern. Aber auch Bucky ist nicht frei von Angst und Panik. Den Eistee, der ihm angeboten wird, als er den Eltern eines der verstorbenen Jungen seinen Kondolenzbesuch abstattet, lässt er unberührt, obwohl seine Kehle ausgedörrt ist von der Hitze. Doch einen saftigen Pfirsich lehnt er nicht ab, denn es ist der Vater von Marcia, der Frau, mit der er sich verloben will, der ihm die Frucht reicht.

Dieser Pfirsich ist zugleich ein Symbol für die Versuchung des Fleisches, die Buckys Zwiespalt noch verstärkt. Marcia arbeitet in einem Ferienlager in den Poconos und bedrängt Bucky sanft, den Job als Bademeister im selben Camp anzunehmen, den sie ihm besorgt hat. Aber Bucky ist entschlossen, in Newark die Stellung zu halten. Die Kinder zu beschützen, betrachtet er als seinen Kriegseinsatz an der Heimatfront. Ihn, der wegen seiner Brille und seiner geringen Körpergröße zurückgestellt wurde, quält es, dass er nicht mit seinen Freunden als Soldat in der Normandie kämpfen darf, gegen jenes noch viel unfassbarere Verhängnis, das Gott ebenfalls nicht verhindert hat: den Massenmord an seinem, dem jüdischen Volk in Europa.

Mit wehenden Fahnen wäre er in den Krieg gezogen, denn für den Krieg ist Bucky, dieser Modellathlet, begnadete Turmspringer und Speerwerfer mit seinem wie aus Eisen gegossenen, bis in den letzten Muskel definierten Körper gemacht, schreibt Roth, der seiner Romanfigur alle Züge eines klassischen Helden verleiht, bis hin zu dessen klassischer Waffe, dem Speer. "Unbesiegbar" lautet das letzte Wort des Romans, denn dafür halten ihn seine Jungen, wenn er den Speer schleudert.

Doch seinen Krieg wird Bucky Cantor, der amerikanische Achill, verlieren. Obwohl er über das Kriegsglück genauso wenig Macht hat wie über die Kinderlähmung, sieht er sich als negative Gegenfigur zu dem prominentesten Polio-Opfer, Präsident Roosevelt, der an den beiden Fronten siegreich war, an denen Bucky versagte, indem er die Wende im Zweiten Weltkrieg herbeiführte und maßgeblich dazu beitrug, einen Impfstoff zu entwickeln. So befreite er die Welt von zwei Übeln seiner Epoche: Hitler und Polio.

Lesen Sie auf Seite 2, wie Philip Roth den Schuldkomplex seines Helden verankert.

Rendezvous mit der Rachegöttin

Das ist der große historische Resonanzraum, den Roth in seinem nur gut zweihundert Seiten umfassenden Roman öffnet und in den er seinen Helden hineinstellt, der sich doppelt schuldig fühlt: weil er Amerika nicht in Europa verteidigt und weil er dessen Kinder verrät, als er plötzlich doch nachgibt und Marcia in die Poconos folgt, wenige Tage, bevor der Sportplatz ohnehin geschlossen wird. Die kurze Pastorale in der ländlichen Idylle samt Kanufahrten und Liebesnächten auf der Insel im See, mit denen Roth einen klassischen Topos zitiert, die Einschiffung nach Kythera, der mythischen Insel der Göttin Aphrodite - dieses zarte Aquarell in der sonst schroff, mit wütenden Strichen gezeichneten Geschichte, geht dem erbarmungslosen Rendezvous Bucky Cantors mit der Rachegöttin voraus.

Die Epidemie erreicht das Camp, und als auch Bucky krank wird, ist er davon überzeugt, er habe das Virus eingeschleppt. Hier bricht die Fabel jäh ab und springt ins Jahr 1971, in dem sich endlich der Erzähler des Romans zu erkennen gibt. Es ist einer von Bucky Cantors ehemaligen Schülern. Selbst von der Kinderlähmung gezeichnet, schildert er, was aus seinem Lehrer wurde: ein verbitterter und vereinsamter Krüppel, der auf Marcia verzichtete und sich als Postbeamter über die Runden bringt.

Der dritte und letzte Teil von "Nemesis" stürzt den Leser mit größter Wucht, geradezu rasend in den Abgrund einer klassischen Tragödie, als welche auch bereits die vorhergehenden Bücher angelegt waren. Mit diesem Werk vollendet Philip Roth eine Tetralogie kürzerer Romane, in denen er die Summe seiner Themen und seines Könnens zieht, meisterhaft alles, was ihn als Schriftsteller ausmacht, zusammenführt und konzentriert. Auch in die vorhergehenden Romane, "Empörung" und "Die Demütigung" hatte Roth seine geballte Lebenswut gelegt und seine Prosa in ein Geschoss verwandelt. Der 77-Jährige wird von Buch zu Buch nicht nur düsterer, sondern auch immer härter, schonungsloser. Dabei hat er die beiden thematischen Stränge in seinem Werk in vollendeter Form miteinander verknüpft, den Stoff der autobiographisch geprägten Romane, die um Herkunft, Familie, Vergänglichkeit, um Frauen und um Künstlerschaft kreisten, und jene Parabeln, in denen er auf die großen historischen und politischen Fragen Amerikas ausgriff.

Jetzt spielt alles ineinander und befeuert sich gegenseitig, und in diesem Zusammenspiel wirkt sein Stil sehnig, ausgezehrt und von einer nachgerade unerbittlichen Erzählökonomie gestählt. Beispielhaft hierfür ist in "Nemesis" die Plastizität, mit der Roth die sommerliche Atmosphäre des Newarks seiner Kindheit zum Leben zu erwecken versteht, die durch Herkunft beglaubigten Details jedoch als Bruchstücke für den Aufbau einer fiktionalen moralischen Versuchsanordnung verwendet. Exemplarisch ist auch die Hauptfigur, die nur die jüngste in der langen Reihen jüdischer junger Männer ist, strebsam, begabt, aufstiegswillig - und nah an Roth selbst. Man muss die Meisterschaft des Autors um so mehr rühmen, als dieser Bucky Cantor trotz all seiner Kraft als Romanfigur letztlich leider doch zu schwach ist, um die historischen Lasten zu tragen, die sein Erfinder ihm aufbürdet.

Um dessen Schuldkomplex, diese heillose Identifikation mit den dunklen Schicksalsmächten, die als letzte Verzweigung der jüdischen Leidensgeschichte zu verstehen ist, glaubhaft zu machen, muss Roth die Unterlegenheitsgefühle früh in der Kindheit verankern. So lässt er Bucky bei den Großeltern aufwachsen, weil die Mutter bei seiner Geburt starb und sein Vater straffällig wurde. Der Sohn versucht nun unter den Kampfbedingungen der Assimilation, das, was er als Schuld empfindet, wieder gutzumachen. Doch den Gewissensbissen des Helden fehlt eine hinreichend tragfähige objektive Grundlage.

"Er wurde von einem übersteigerten Pflichtgefühl getrieben, besaß aber zu wenig geistige Statur, und dafür hat er einen hohen Preis gezahlt". Diese lapidaren Worte legt Roth zwar dem Erzähler in den Mund. Doch woher kommt dieses "Pflichtgefühl"? Und warum muss es den Helden in den Untergang treiben? Philip Roth hat das Defizit in der literarischen Motivation seines Protagonisten vielleicht gespürt. Indem er Bucky Cantor in zwei Disziplinen triumphal in Szene setzt, als Turmspringer und als Speerwerfer, versucht er, seinen Helden zu überhöhen, verwandelt ihn in eine trotz ihrer Kleinwüchsigkeit übergroße Gestalt. Das ist eindrucksvoll, mitreißend und entfaltet einige rhetorische Wucht -lässt aber einen Leser zurück, der sich am Ende nicht nur über Bucky, sondern auch über die eigene Begeisterung wundert.

PHILIP ROTH: Nemesis. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2011. 224 Seiten, 18,90 Euro.

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