Berlinale 2011:Im Herzen der Bewegung

Lesezeit: 3 min

Zwei junge Stuttgarter Filmemacher begeben sich auf die Suche nach den Gesichtern des Protests gegen das Mega-Projekt Stuttgart 21 - und werden gerade rechtzeitig zur Berlinale fündig.

Lena Jakat

Der Zug rattert durch eine verschneite Landschaft, vorbei an hübschen Häusern. Die Kamera zoomt heraus und entlarvt die Idylle: Es ist nur eine Modelleisenbahn, die hier so beschaulich ihre Runden dreht - und zwar in Sichtweite des Stuttgarter Hauptbahnhofs. So beginnt der Film Stuttgart 21 - Denk mal!. Auf der Berlinale feiert der 75-minütige Dokumentarfilm über den Widerstand gegen das geplante Großprojekt Stuttgart 21 Premiere. Er kommt direkt aus dem Schnittraum und läuft als Gast der Perspektive Deutsches Kino. "Bis vor drei Tage haben wir toujours daran gearbeitet", sagt Florian Kläger. Für den 23-Jährigen ist es, ebenso wie für seine Co-Regisseurin Lisa Sperling, der erste eigene Langfilm.

Fast ein Jahr lang haben Florian Kläger und Lisa Sperling die Proteste mit der Kamera begleitet. Stuttgart 21 - Denk mal! lässt dabei nur die Bilder und die Protagonisten sprechen, es gibt keinen Off-Text. (Foto: Aksel Özdemir/Berlinale)

Fast ein Jahr lang haben die beiden jungen Filmemacher die Proteste in Stuttgart mit der Kamera begleitet - besser gesagt: haben sie mit der Kamera protestiert. Im Januar 2010 waren Sperling und Kläger zum ersten Mal auf einer Montagsdemonstration. Zwar hatten sie von Anfang an wann immer möglich eine Kamera dabei. "Zuerst wollten wir das nur für uns dokumentieren, um vielleicht irgendwann später mal etwas daraus zu machen", sagt Kläger. Dass daraus ein Berlinale-Beitrag in Spielfilmlänge entstand, entschied sich erst am 30. September - dem Tag der gewaltsamen Räumung des Stuttgarter Schlossgartens. "Nach diesen Ereignissen haben wir gesagt, jetzt müssen wir was machen", sagt Produzent Peter Rommel.

Entstanden ist eine Collage aus eigenem Material, Nachrichtenausschnitten und Bildern, die andere Bahnhofsgegner den Filmemachern zur Verfügung gestellt haben. Szenen der Demonstrationen wechseln sich ab mit Interviewsequenzen, Zugfahrten mit Bildern aus dem Schlossgarten. Die Kamera, wacklig-dokumentarisch, kommt den Protagonisten dabei ganz nah: Wenn Gangolf Stocker, Mitinitiator der Proteste, ans Mikrofon tritt, und Bahnchef Rüdiger Grube von den Massen ausgebuht wird. Wenn sich der Journalist Joe Bauer über die Politiker empört und ein blindes Ehepaar die fehlende Behindertenfreundlichkeit des geplanten Kopfbahnhofs anprangert. Wenn Dietrich Wagner, jener Rentner, der nach dem Wasserwerfer-Einsatz erblindete, seiner Enttäuschung über die Politik Luft macht.

Auf seiner vollen Länge lässt der Film dabei nur Bilder und die Protagonisten sprechen, es gibt keinen Off-Text. "Uns war von Anfang an klar, dass wir nichts erklären wollen", sagt Regisseur und Kameramann Kläger. "Die Reportagen, die alles erklären, kommen ja bestimmt noch." Und so ist Stuttgart 21 - Denk mal! auch ein Film der Gegner geworden. Die Befürworter des Projekts kommen selbst nicht zu Wort, flimmern höchstens mal über einen Fernsehschirm im Hintergrund. "Wir wollten nicht das Projekt in seiner Gesamtheit zeigen und da eine dialektische Doku draus machen", sagt Kläger. "Wir wollten nur den Protest, die Menschen und ihre Beweggründe zeigen. Weil wir selbst immer auf den Montagsdemonstrationen waren, haben wird deren Blick eingenommen."

Ob sie sich als politische Filmemacher sehen? "Schwer zu sagen", antwortet Florian Kläger. Erst im Oktober hat er angefangen, an der Filmakademie Baden-Württemberg Schnitt zu studieren - und verpasste für Stuttgart 21 - Denk mal! gleich fast das ganze erste Semester. Genauso seine Co-Regisseurin Lisa Sperling. Sie hat ihr Film-Studium in Hamburg begonnen. "Ich finde es schon wichtig, dass man als Filmemacher hat, was zu sagen", sagt die 24-Jährige.

Ganz nah bei den Demonstranten ist die Kamera auch an jenem 30. September dabei, als die Lage im Stuttgarter Schlossgarten eskaliert. Zwölf Stunden waren Sperling und Kläger dort, haben gefilmt - und präsentieren dem Berlinale-Publikum minutenlange, unbearbeitete Sequenzen. Die Szenen zeigen Schüler und Rentner, Jugendliche, die mit Polizisten rangeln, Dutzende, die sich Pfefferspray aus den Augen waschen. Sie zeigen weinende Frauen, wütende Demonstranten - und Polizistengesichter, aus denen reine Ratlosigkeit spricht. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass es für diese Bilder jetzt Ärger geben wird", sagt Produzent Rommel. "Ich bin gespannt, wie die Politik reagiert."

Eigentlich macht Rommel Spielfilme - mit Halbe Treppe hat er auf der Berlinale 2002 den Silbernen Bären gewonnen, er hat Sommer vorm Balkon und Wolke 9 produziert. Aber dieses Projekt ist anders, eine "Herzensangelegenheit" wie er sagt. Wenn er über den Film spricht, wird er sofort politisch. "Bei Stuttgart 21 sind immer mehr Missstände aufgetreten", sagt Rommel, und die Bürger hätten schlicht keine Lust mehr gehabt, politische Entscheidungen nur "abzunicken". Mit den Protesten hätten sich die Bürger "wieder ernst genommen gefühlt." Der Produzent klingt dabei fast ein bisschen hitzig - obwohl er den Begriff des "Wutbürgers" ganz entschieden ablehnt.

Wegen anderer Filme traf sich Rommel im November mit Festivaldirektor Dieter Kosslick und berichtete ihm von seiner "Herzensangelegenheit" - die zu diesem Zeitpunkt noch kein Film war. Auch als das Werk am 10. Januar dem Berlinale-Team vorgestellt wurde, befand er sich noch im Werden. Nur knapp vier Wochen verbrachten Kläger, Sperling und ihr Team damit, die 30 Stunden Material zu sichten und in einen Film zu verwandeln. Die kurze Produktionszeit ist dem Ergebnis auch anzusehen.

Nicht nur wegen der Berlinale drängte es: Am 27. März wird in Baden-Württemberg ein neuer Landtag gewählt. "Ich hoffe, dass mit diesem Film das Feuer in den Protest zurückkommt", sagt Produzent Rommel. Nach den Filmfestspielen kehrt der Film zurück ins "Herz der Bewegung", wie Rommel sagt, wird bei einer Großveranstaltung mit Schauspieler und S21-Gegner Walter Sittler gezeigt. Danach soll die Dokumentation durchs Ländle touren, und für örtliche Protestveranstaltungen aus dem Netz herunterzuladen sein.

Im Abspann stellen die Macher des Films noch einmal unmissverständlich klar, worauf es ihnen ankommt: Die Credits enden mit dem Schlachtruf der S21-Gegner: "Oben bleiben!".

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: