Proteste im Nahen Osten:Israel und die Angst vor den Nachbarn

Der Nahe Osten, beherrscht von korrupten Autokraten, verändert sich: Von Tunis über Kairo bis nach Tripolis begehren die Völker auf. Die alte Ordnung droht auseinanderzubrechen, Israel erstarrt in Furcht. Dabei wäre nun Zeit zu handeln.

Peter Münch

Der Nahe Osten war immer auch der Wilde Osten: Beherrscht von korrupten Autokraten, die ihre Völker unterdrücken; bedroht von verbohrten Islamisten, die den Terror schüren. Unruhig und unwirtlich steht die Sorgen-Region seit langem im Zentrum der Weltpolitik, obwohl es doch auch andere, ähnlich bedrohliche Gegenden gibt - in Afrika oder in Südasien. Die besondere Aufmerksamkeit jedoch verdankt der Nahe Osten einer Auseinandersetzung, die weit mehr als nur eine regionale Bedeutung hat: dem israelisch-arabischen Konflikt, der stets auch ein Kampf der Kulturen war.

Denn inmitten des Wilden Ostens gibt es ein Land, das aus vielerlei Gründen anders ist als alle anderen: Israel. Der jüdische Staat ist seit seiner Gründung vor 63 Jahren die einzige Demokratie in der Region, und auch deshalb ist er der geborene Partner der Amerikaner und Europäer. Israel wird im Nahen Osten als Vorposten der westlichen Werte gesehen, daran ändern auch Verstöße gegen diese Werte nichts. Ehud Barak hat sein Land deshalb einmal als "Villa im Dschungel" bezeichnet. Diese Villa gilt es zu schützen - der westlichen Hilfe konnte sich Israel also immer sicher sein.

Nun aber lichtet sich der Dschungel, von Tunis über Kairo bis nach Tripolis begehren die Völker gegen ihre Herrscher auf und fordern auch für sich die Demokratie. Im Westen wird dieser Aufbruch mit einigen Zweifeln, aber auch mit viel Optimismus begleitet. Israel jedoch blickt trotz mancher Hoffnungszeichen mit großer Angst auf die Entwicklung - nicht nur, weil nach dem Ende der alten Ordnung neue Kriege drohen. Die Revolutionen in Nahost werden in jedem Fall die Rolle Israels neu bestimmen, auch im Verhältnis zu Europa und den USA.

Der Westen ist angesichts der Proteste auch deswegen in freudiger Erwartung, weil er an 1989 denkt, an den Umbruch in Europa. Wie einstmals im europäischen Osten, als alle Mauern stürzten, so könnte nun auch der Aufstand in Arabien die Wüsten in blühende Landschaften verwandeln. In Israel wird dagegen eher 1789 als Vergleich bemüht - die Revolution des französischen Bürgertums, die schließlich in jakobinischem Terror und in die Kriege Napoleons mündete. Träfe die erste Variante zu, das Modell Osteuropa, dann wäre das Ende des Kulturkampfes im Nahen Osten zu feiern. Nach der zweiten Variante aber stünde die Region vor einer noch viel schärferen Auseinandersetzung.

Angst vor Kontrollverlust

Für beide Szenarien lassen sich Indizien finden, Beweise bringt hingegen nur die Zeit. Entschieden allerdings wird darüber weder im Westen noch in Israel. Entschieden wird in der arabischen Welt selbst, auf den Straßen und in den Hinterzimmern der Macht. Und natürlich haben die Menschen dort auch die Freiheit, jenseits der historischen Wunsch- und Schreckensbilder ganz eigene, ganz neue Wege zu suchen.

Bei dieser Suche wird sich der nahöstliche Kulturkampf nun in die arabischen Gesellschaften selbst hineinverlagern. Jetzt ringen die freiheitsliebende Facebook-Generation und die auf Wohlstand hoffende Mittelschicht mit religiösen Fundamentalisten oder nationalistischen Eiferern.

Eine Chance für Iran?

In dieser ersten Phase des Übergangs tritt der scheinbar ewig währende Nahostkonflikt zwischen Israel und seinen Nachbarn plötzlich in den Hintergrund. Zwar sind nach alter Tradition auch in Kairo und anderswo Stimmen zu hören, die zum Marsch auf Jerusalem aufrufen. Doch dies ist nicht das Ziel des Protests. Es werden keine Fahnen mit dem Davidstern verbrannt, sondern Bilder von Ben Ali, Mubarak und Gaddafi. Das kann sich gewiss schnell wieder ändern, wenn ein äußerer Feind gebraucht wird, um die inneren Gräben zuzuschütten. Doch wer verhindern will, dass sich die positive Dynamik wendet, der muss nun schnell handeln und versuchen, von außen so viel Einfluss wie möglich zu nehmen auf die inneren Prozesse in den arabischen Staaten. Das gilt für den Westen, aber es gilt auch für Israel.

Anti-Gaddafi protesters chant slogans during a protest in Benghazi

Anti-Gaddafi-Demonstranten in Bengasi: Die Protestbewegung, die in Tunis begann, hat längst Libyen erreicht.

(Foto: REUTERS)

Während in Washington, Paris und Berlin die Luft schwirrt vom Gerede über Marshallpläne und Aufbauprogramme, bleibt Jerusalem still. In der alten Dschungelvilla mag die Nachbarschaft nicht angenehm gewesen sein, aber wenigstens weitgehend kontrollierbar. Spätestens mit dem Umsturz in Ägypten sind indes alle strategischen Gewissheiten ins Wanken geraten, Israel fürchtet nun den Kontrollverlust. Deshalb werden die Revolutionen vorrangig als Bedrohung wahrgenommen, gegen die es sich zu wappnen gilt - mit einer Erhöhung des Militäretats zum Beispiel, wie sie in diesen Tagen Premierminister Benjamin Netanjahu angekündigt hat.

Mokieren sollte sich darüber niemand, schon gar nicht, wenn er weit weg in bequemer Sicherheit lebt. Dass im arabischen Aufbruch nicht nur die Freunde der Demokratie eine Chance sehen, sondern auch das demokratieferne Regime in Teheran, zeigte sich in dieser Woche, als Iran die neuen Zeiten mit einer Fahrt zweier Kriegsschiffe durch den Suezkanal ins Mittelmeer feierte.

Und dennoch: Israel kann nicht in seiner Angst- und Abwehrstarre verharren, während sich die Welt jenseits der Grenzen neu sortiert. Sonst droht nämlich noch eine Gefahr: die Entfremdung von den Freunden im Westen, ja schlimmstenfalls die Isolation.

Bislang hatte sich Israel mit seinem Alleinstellungsmerkmal als einzige Demokratie im Nahen Osten fast immer auf die bedingungslose Unterstützung des Westens verlassen können - Werte verbinden. Wenn nun jedoch im Nahen Osten andere Demokratien wachsen sollen, dann verschwimmen die Fronten des alten Kulturkampfes, und die Wertegemeinschaft könnte sich ausdehnen. Weder Washington noch die Europäer können sich dann noch einen Partner leisten, der mit seiner Politik ihre Bemühungen um die neue arabische Welt konterkariert. Israel droht also nicht nur seine Position als Demokratie-Solitär zu verlieren. Die lange tolerierte Besatzungs- und Siedlungspolitik, die wie ein Schatten auf der Demokratie lastet, dürfte künftig noch viel kritischer betrachtet werden.

Einen Vorgeschmack darauf gab es bereits vorige Woche im UN-Sicherheitsrat. Zu den 14 Staaten, die Israel wegen seiner Siedlungspolitik verurteilten, zählten auch Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Die USA schützten den alten Verbündeten zwar noch mit ihrem Veto. Doch auch die Regierung von Barack Obama wird ihre Glaubwürdigkeit nicht auf Dauer für Israels verfehlte Politik opfern wollen.

Der Westen stand jahrzehntelang an der Seite der israelischen Demokratie. Nun hat er das Recht und sogar die Pflicht, von Israel einen Beitrag zur Unterstützung des arabischen Demokratie-Aufbruchs zu verlangen. Dieser Beitrag ist leicht zu erkennen: Israel muss Zugeständnisse im Friedensprozess mit den Palästinensern machen. Bei den Protesten in der arabischen Welt mag das keine Rolle gespielt haben. Doch wer die neuen Demokratien fördern will, der muss zunächst die alten Konflikte lösen.

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