Interview mit Jean Ziegler:"Gaddafi ist völlig verrückt"

Der Schweizer Soziologe und UN-Berater Jean Ziegler hat Libyens Despoten als "analytisch begabten Menschen erlebt". Ein Gespräch über die Wandlung Gaddafis, die Tragödie der Libyer - und Gemeinsamkeiten mit Deutschland 1989.

Wolfgang Jaschensky

sueddeutsche.de: Herr Ziegler, Sie waren selbst oft in Libyen und verfolgen die Lage im Land auch als Berater für den UN-Menschenrechtsrat. Wie geht es Ihnen, wenn Sie die Bilder und Berichte aus Libyen sehen?

Ziegler, UN Special Rapporteur on the Right to Food, attends a meeting with Cuban Foreign Minister Roque in Havana

Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler ist Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats. In seinem jüngsten Buch "Der Hass auf den Westen" (gerade bei Goldmann als Taschenbuch erschienen) beschreibt Ziegler, wie sich die armen Völker gegen den reichen Westen wehren.

(Foto: Reuters)

Jean Ziegler: Wir erleben eine fürchterliche Tragödie. Die Libyer, dieses todesmutige Volk, kämpfen für die Werte des Westens, für unsere Werte. Für Freiheit. Für Menschenwürde. Sie rufen "Wir sind das Volk", wie das die Deutschen 1989 gemacht haben. Damals hat die Volkspolizei zum Glück nicht geschossen. In Libyen sind nun schon mehr als 3000, vielleicht 6000 Menschen ums Leben gekommen. Das ist furchtbar.

sueddeutsche.de: Die Vereinten Nationen haben Sanktionen gegen Libyen verhängt und der Internationale Strafgerichtshofs in Den Haag ermittelt gegen Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi und seine Adjutanten. Sind Sie zufrieden mit der Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die Lage in Libyen?

Ziegler: Überhaupt nicht. Angesichts dieser fürchterlichen Tragödie des libyschen Volkes scheut die internationale Gemeinde vor effektiven Sanktionen zurück. Eine Kontosperre? Total sinnlos! Es gibt kein Sparbuch, das auf den Namen Gaddafi läuft. Auch das Waffenembargo bringt überhaupt nichts mehr, Gaddafi verfügt über ein Waffenarsenal wie kein anderer Tyrann der Erde. Auch was in Den Haag passiert, ist Gaddafi doch völlig gleichgültig.

sueddeutsche.de: Welche Reaktionen wünschen Sie sich?

Ziegler: Das mindeste, was der Westen tun könnte, ist eine Sperrung des Luftraums. Ich weiß nicht, ob das zum Sturz von Gaddafi führen würde. Aber es würde der Opposition die Möglichkeit geben, weiter nach Westen vorzudringen. Vor allem aber würde das Tausende Menschenleben retten, die Gaddafi sonst mit seiner Luftwaffe töten wird. Für ein solches Flugverbot gibt es völkerrechtliche Präzedenzfälle. 1991 hat der UN-Sicherheitsrat gegen Saddam Hussein 1991 eine Flugverbotszone nördlich des 36. Breitengrades verhängt. Auch im Kosovo haben westliche Streitkräfte den Luftraum mit Waffengewalt geschützt. Die rechtlichen Möglichkeiten dafür bestehen also. Was nicht besteht ist der politische Wille!

"Er glaubt seine eigenen Lügen"

sueddeutsche.de: Sie erleben die Verhandlungen im UN-Menschenrechtsausschuss. Warum, glauben Sie, fehlt dieser Wille angesichts der humanitären Katastrophe in Libyen?

Zeitung: Immer mehr Helfer Gaddafis quittieren Dienst

"Der Fall Gaddafi könnte einen Psychiater interessieren" sagt Jean Ziegler, der den Despoten insgesamt sechs Mal getroffen hat.

(Foto: dpa)

Ziegler: Nach dem langen Embargo hat die westliche Staatengemeinschaft in ihrer totalen Scheinheiligkeit den Tyrann Gaddafi 2005 wieder in ihren Schoß aufgenommen. Gaddafi wurde bis jetzt hofiert, weil Libyen gigantische Mengen Öl nach Europa liefert und mit seinen Petrodollars ein überaus interessanter Markt für westliche Firmen ist. Nach Jahren gedeihlichen Wirtschaftens hat der Westen jetzt freilich Mühe, in Gaddafi plötzlich den Feind zu sehen.

sueddeutsche.de: Sie haben Muammar al-Gaddafi mehrmals persönlich getroffen. Welchen Eindruck hatten Sie damals von ihm?

Ziegler: Ich war einer von den Intellektuellen, die er oft eingeladen hat. Ich war insgesamt sechs Mal bei ihm. Als Soziologe versuche ich zu verstehen, wie die Welt funktioniert, und da ist es für mich natürlich interessant, mit einem Staatschef zu sprechen, auch wenn er ein Halunke ist. Gaddafi glaubt von sich, ein großer Theoretiker zu sein, aber sein "Grünes Buch", das er als dritte Universaltheorie bezeichnet, das ist total wirr. Allerdings muss ich auch sagen: Damals habe ich Gaddafi als biltzgescheiten, argumentativen, analytisch begabten Menschen erlebt. Er spricht perfekt Englisch, er liest sehr viel und er war ein absolut brillanter Redner. Das weiß jeder, der ihn bei den Revolutionsfeierlichkeiten auf dem Grünen Platz erlebt hat. Er hat die Menge gespürt, intuitiv begeistert.

sueddeutsche.de: Davon war bei Gaddafis jüngsten Fernsehauftritten wenig zu sehen...

Ziegler: Davon war gar nichts mehr zu sehen. Jetzt redet er stockend und konfus. Gaddafi hat einen absoluten Realitätsverlust erlitten. Ich habe fast den Eindruck, er glaubt seine eigenen Lügen. Der Fall Gaddafi könnte einen Psychiater interessieren, mit politischen Kategorien ist ihm nicht mehr beizukommen. Gaddafi ist völlig verrückt.

sueddeutsche.de: Wie erklären Sie sich das?

Ziegler: Ich glaube, das ist nur mit der Existenzangst zu erklären. Er steht mit dem Rücken zur Wand und ist in absoluter Panik.

sueddeutsche.de: Diese Existenzangst mussten auch die Autokraten in Ägypten und Tunesien haben.

Ziegler: Bei Ben Ali und Mubarak hatte ich zumindest den Eindruck, dass da eine Form der Interessenabwägung stattfindet - entweder das Volk richtet mich hin, oder ich setze mich ab. Ich glaube, dass nichts dergleichen im Bunker der Bab al-Asisiya passiert.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: