Einsatz am AKW: Interview:Kamikaze: Historische Ausnahme

Sollen sich Einzelne für andere opfern? In Fukushima-1 passiert das gerade. Historiker Conrad über Kamikaze als Symbol für Japans Gesellschaft.

Andrian Kreye

Sebastian Conrad ist Historiker an der Freien Universität Berlin. Er hat mehrere Jahre in Japan gearbeitet. Seine letzte Veröffentlichung "The Quest for the Lost Nation: Writing History in Germany and Japan in the American Century" ist 2010 in der California University Press erschienen.

Kamikaze

Hichiro Naemura in seiner alten Militär-Uniform im Imperial War Museum in London (Archiv 2002): Naemura war einer der wenigen Piloten, die für den Einsatz trainiert wurden und den Krieg überlebten, weil der Tenno vor seinem Einsatz die Kapitulation verkündet hatte

(Foto: REUTERS)

SZ: Gibt es in Japan eine Philosophie, sich für das große Ganze zu opfern, das hier im Westen durch das Bild vom Kamikaze geprägt ist?

Sebastian Conrad: Es gibt die Vorstellung, dass die Kamikazebomber ein Ausdruck einer kollektivistischen Mentalität in Japan sind. Aber man kann das nicht zum Symbol für die japanische Gesellschaft machen, das waren junge Menschen, die in eine strikte Hierarchie in einer militärisch aussichtslosen Situation eingebunden waren, da muss man das Ausmaß von Freiwilligkeit relativieren.

SZ: Findet man denn Unterschiede zwischen unseren und japanischen Moralvorstellungen und Werten?

Conrad: Unterschiede kann man feststellen, aber sie sind grundsätzlich gradueller Art. Vieles kann man in Begriffe fassen, die auch in Europa Resonanz fänden - vom Pflichtbewusstsein bis zur Ethik des Gemeinwohls. Das sind keine anthropologisch unterschiedlichen Zugänge. Mein Eindruck ist, dass in Japan von früh an in Familie und Schule diese Einbindung in größere Kollektive stärker eingeübt wird und dass das, was in westlichen Gesellschaften als Freiheit bezeichnet wird, dort manchmal einen negativen Klang hat. Freiheit und Egoismus werden da bisweilen zusammen gelesen.

SZ: Kann man das erklären?

Conrad: Man könnte eine historische Linie ziehen, die zeigt, dass in Japan - wie in anderen vom Konfuzianismus geprägten Gesellschaften - die Einbindung in soziale Beziehungen und die Vorstellung von einem größeren Ganzen fundamental war für ethische Entscheidungen des Individuums. Man darf das aber nicht verabsolutieren. Japan ist heute eine industrialisierte Gesellschaft mit im Grunde individualisierten Normen. Graduelle Unterschiede gibt es auch in westlichen Gesellschaften, wenn etwa behauptet wird, dass Pflichtbewusstsein in Deutschland eine größere Rolle spiele.

SZ: Gibt es dafür historische oder religiöse Gründe?

Conrad: Der religiöse Faktor spielt in Japan kaum eine Rolle. Das sind eher soziale Normen. Aber Japan ist seit den neunziger Jahren eine hochindividualisierte Gesellschaft. Die Japaner des 21. Jahrhunderts sind ihren Altersgenossen in Europa normativ ähnlicher als etwa den Japanern von vor einhundert Jahren.

SZ: Gibt es ganz andere Gründe? Geographische vielleicht?

Conrad: Auch dieses Argument liest man häufig: Nur 16 Prozent dieses kleinen Landes sind überhaupt bewohnbar, daher müsse man mehr zusammenhalten. In Japan selbst gibt es eine lange Debatte der Selbstdeutung. Es gibt mehr Literatur als in jedem anderen Land auf der Erde zur nationalen Selbstverständigung: darüber, was es heißt, Japaner zu sein. Da werden eine ganze Reihe von solchen Aspekten genannt. Zum Beispiel auch das Klima und nicht zuletzt die Naturkatastrophen. Von diesen Stereotypen halte ich allerdings nicht viel. Sicher, im Alltag - etwa in überfüllten U-Bahnen - begegnet man sich mit viel Rücksichtnahme. Aber das lässt sich nicht auf Platzmangel oder die Insellage zurückführen - das sind Versuche, gesellschaftliche Normen als ein Ergebnis der Natur darzustellen.

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