Der Fall John Demjanjuk:Viele Vermutungen, wenig Beweise

Ist John Demjanjuk ein Helfer der NS-Massenmörder? Vor den Plädoyers im Prozess gegen den mutmaßlichen Wachmann im Vernichtungslager Sobibor sind längst nicht alle Zweifel ausgeräumt. Ein Überblick.

Robert Probst

Christiaan F. Rüter hatte sein Urteil bereits zu Prozessbeginn parat. Der niederländische Strafrechtler und Experte für NS-Prozesse sagte im November 2009, ihm sei "schleierhaft, wie irgendjemand, der die deutsche Justiz kennt, meinen kann, dass man Demjanjuk bei dieser Beweislage verurteilen kann."

John Demjanjuk

Steht im Verdacht, Menschen in die Gaskammern getrieben zu haben: John Demjanjuk.

(Foto: APN)

Das Verfahren gegen den mutmaßlichen Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk, 90, nähert sich nun nach beinahe 90 Verhandlungstagen dem Ende, am Donnerstag schloss das Gericht die Beweisaufnahme.

Es ist kein einfacher Prozess für das Landgericht München II: Es muss unter den kritischen Blicken der Weltöffentlichkeit eines der letzten großen Verfahren gegen einen mutmaßlichen Holocaust-Verbrecher führen - 68 Jahre nach den Ereignissen, gegen einen 90 Jahre alten und kranken staatenlosen Mann.

Gegen einen Mann, der beharrlich schweigt, der schon einmal wegen eines ähnlichen Vorwurfs verurteilt und wieder freigesprochen wurde, der sich für ein Opfer der Deutschen hält, über einen "politischen Schauprozess" schimpft und den keine lebenden Zeugen in Sobibor gesehen haben.

Für ein Urteil, so viel steht fest, muss das Gericht zahlreiche Hürden überwinden, bei weitem sind nicht alle Zweifel ausgeräumt.

Die Anklage

Die Staatsanwaltschaft München wirft dem Angeklagten "bereitwillige" Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Juden im Vernichtungslager Sobibor vor. Der sowjetische Kriegsgefangene Iwan Demjanjuk, damals 22 Jahre alt, soll zunächst von der SS im polnischen Lager Trawniki als "fremdvölkischer Hilfswilliger" ausgebildet worden sein und dann als Wachmann vom 28. März bis Mitte September 1943 bei der fabrikmäßigen Ermordung vor allem polnischer und niederländischer Juden "in gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung" geholfen haben.

Seinen Vorwurf stützt Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz vorwiegend auf den erhaltenen Dienstausweis Demjanjuks mit der Nummer 1393, in dem vermerkt ist, er sei am 27. März 1943 nach Sobibor - einem der drei Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt" - abkommandiert worden. Aus ebenfalls erhaltenen Transferlisten geht hervor, dass der Wachmann Demjanjuk später im KZ Flossenbürg Dienst tat. Die fiktive Zahl der Opfer setzt sich zusammen aus erhaltenen Listen von 15 Deportationszügen, die zwischen April und Juli 1943 vom niederländischen Lager Westerbork nach Sobibor fuhren. Unter ihnen sollen auch mehr als 1900 deutsche Juden gewesen sein.

Wie viele polnische Juden in dieser Zeit in Sobibor ermordet wurden, lässt sich nicht mehr ermitteln. Insgesamt wurden in Sobibor 1942/43 etwa 250.000 Juden in Gaskammern getötet. Die Staatsanwaltschaft wirft Demjanjuk vor, dass er trotz der Kenntnis der Verbrechen in Sobibor "nicht aus dem Lager floh, obwohl er hierzu die Möglichkeit in der dienstfreien Zeit und bei Außeneinsätzen hatte."

Das Alibi

Das Alibi

Schild des ehemaligen Bahnhofs Sobibor in Polen.

Schild des ehemaligen Bahnhofs Sobibor in Polen.

(Foto: REUTERS)

Einen konkreten Tatvorwurf enthält die Anklage allerdings nicht. Auf Beihilfe zum Mord stehen bis zu 15 Jahre Gefängnis.

John Demjanjuk macht zu den Vorwürfen keinerlei Angaben, im Prozess schweigt er beharrlich. Lediglich schriftlich hat er sich bisher dreimal geäußert. In seinen Erklärungen bezeichnet er sich stets als Opfer der Deutschen, das nun für die Verbrechen der Nazis büßen solle. Das Gericht ist daher auf Angaben angewiesen, die Demjanjuk vor langer Zeit gemacht hat - freilich widersprechen sich diese Angaben.

Unbestritten ist, dass der gebürtige Ukrainer im Mai 1942 bei Gefechten der Wehrmacht mit der Roten Armee auf der Halbinsel Kertsch in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, er wurde zunächst ins Kriegsgefangenenlager Rowno (Ukraine) und später ins Lager Chelm im damaligen Generalgouvernement gebracht. Im Stalag 319 (Chelm) will Demjanjuk nach eigenen Angaben bis Oktober 1944 gewesen sein. Im Münchner Prozess erschütterten zwei Sachverständige dieses Alibi. So sei es unwahrscheinlich, dass sowjetische Kriegsgefangene mehrere Monate in diesen Lagern, in denen die Wehrmacht die Rotarmisten regelrecht verhungern ließ, hätten überleben können.

Außerdem sei das Stalag 319 im Mai 1944 verlegt und dann im Juli 1944 von der Roten Armee überrannt worden. Nach dem Krieg lebte der frühere Bauer Iwan Demjanjuk als Displaced Person in Regensburg, Landshut und zuletzt in Feldafing bei München. (Da Feldafing im Gerichtsbezirk des Landgerichts München II liegt, findet nach einem Beschluss des BGH der Prozess in München statt, das Landgericht hatte sich zuvor für nicht zuständig erachtet.)

In den DP-Dokumenten und bei seinen Anträgen für eine Auswanderung in die USA gab Demjanjuk einmal für die Kriegszeit als Wohnort Chelm an, viermal allerdings taucht in Dokumenten das kleine polnische Dorf Sobibor/Sobobor auf - ein winziger Ort, der eigentlich nur Eingeweihten bekanntgewesen sein dürfte. Hier will er als Bauer oder als Fahrer gearbeitet haben. Der Hintergrund solcher Manöver: Aus Angst vor einer Repatriierung und einer möglichen Bestrafung als Kollaborateur der Deutschen war es Auswanderungswilligen stets ein Anliegen, ihren Wohnort während der Kriegszeit außerhalb der Sowjetunion zu verlegen.

Kurz nach dem Krieg war über das Vernichtungslager Sobibor im Westen noch kaum etwas bekannt - und so emigrierte Demjanjuk 1952 unbehelligt in die USA, 1958 erhielt er die US-Staatsbürgerschaft. Seitdem nennt er sich John.

Das zentrale Beweisstück: Der Ausweis

Dienstausweis Iwan Demjanjuk

Umstrittenes Beweisstück: Dienstausweis Iwan Demjanjuks von 1942

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Das zentrale Beweisstück: Der Ausweis

Der Dienstausweis 1393 gilt als eines der meistuntersuchtesten Dokumente aus der NS-Zeit. Es wurde seit Anfang der 1980er Jahre für verschiedene Gerichtsverfahren in den USA und Israel immer wieder von Dutzenden Experten eingehend auf seine Echtheit geprüft. Schon im Prozess in Jerusalem behauptete die Verteidigung - wie auch nun im Münchner Fall Anwalt Ulrich Busch - der Ausweis sei eine "Fälschung des KGB". Er steht damit nicht allein: So sind im Laufe der Jahre interessierte Kreise zu der Auffassung gelangt, der Ausweis sei nicht echt, vor allem im Internet gibt es eine aktive Gemeinde, die in zahllosen Dossiers auf Ungereimtheiten hinweist.

Der Ausweis ist allerdings das zentrale Beweisstück der Staatsanwaltschaft, weil dort die Abordnung Demjanjuks nach Sobibor handschriftlich vermerkt ist - bei einem nichtöffentlichen Prozesstermin wurde das Original von den Beteiligten in Augenschein genommen. Zwei Experten - einer vom bayerischen Landeskriminalamt und ein US-Sachverständiger - betonten, eine nachträgliche Fälschung könne ausgeschlossen werden. Das Dokument sei als "authentisch zu betrachten". Ein Bildexperte des BKA sagte aus, das Foto auf dem Ausweis zeige mit hoher Wahrscheinlichkeit Iwan Demjanjuk.

Die Zeugen

John Demjanjuk

John Demjanjuk bei der Ankunft im Münchner Gefängnis Stadelheim nach seiner Abschiebung aus den USA im Jahre 2009.

(Foto: Getty Images)

Die Zeugen

Ignat Daniltschenko

Die Sowjetunion bestrafte nach dem Krieg alle Kollaborateure der Nazis als Vaterlandsverräter. Bis Ende der 1940er Jahre wurden zahlreiche Prozesse gegen Trawniki-Männer geführt - die meisten endeten mit 25 Jahren Straflager in Sibirien oder mit einem Todesurteil. In diesem Zusammenhang fiel auch der Name Iwan Demjanjuk zum ersten Mal. 1949 sagte der frühere Wachmann Ignat Daniltschenko aus, er habe 1943 mit einem Demjanjuk in Sobibor gedient.

"Als SS-Wachmann hatte Demjanjuk teil an der Massenvernichtung von jüdischen Zivilisten im Lager Sobibor. Er begleitete sie als Bewacher zu den Gaskammern." Später sei er mit Iwan - der als "erfahrener und effizienter Wachmann angesehen" wurde - ins KZ Flossenbürg verlegt worden. Daniltschenkos Name taucht auf der entsprechenden Transferliste auf. Er wurde zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Daniltschenko wiederholte seine Aussage 1979. Dabei nannte er allerdings auch Zeitabläufe, die nicht mit der Anklageschrift und historischen Fakten zusammenpassen. Befragt werden kann er nicht mehr - er ist 1985 gestorben - seine Aussage gilt gleichwohl neben dem Dienstausweis als wichtigstes Beweismittel für Demjanjuks Anwesenheit in Sobibor.

Anwalt Busch hält diese Aussagen (wie alle Ausführungen ehemaliger Trawniki-Männer in der Sowjetunion) für unverwertbar, weil sie nicht in einem rechtsstaatlichen Verfahren zustande gekommen seien, bei den Geheimdienst-Verhören sei gefoltert, vor Gericht massiver Druck ausgeübt worden.

Karpo N.

Als einziger potentieller Belastungszeuge von der Täterseite wurde in München Karpo N., 94, gehört. Der in Landshut lebende gebürtige Ukrainer gab an, Demjanjuk aus dem KZ Flossenbürg zu kennen, er sei dort wie er selbst seit Anfang Oktober 1943 als Wachmann tätig gewesen. N. geht davon aus, dass Demjanjuk wie er selbst im Lager Trawniki ausgebildet wurde - gesehen habe er ihn dort aber nicht.

Auch nach dem Krieg hätten sie jahrelang zusammengelebt - was Demjanjuk vor ihrer Bekanntschaft in Flossenbürg getan habe, sei nie thematisiert worden. N. erkannte den Angeklagten im Gerichtssaal allerdings nicht als den Demjanjuk, den er einst gekannt hatte. Anwalt Busch ist der Ansicht, N. hätte nicht als Zeuge befragt werden dürfen, weil gegen ihn inzwischen auch wegen Holocaust-Verbrechen in Treblinka ermittelt werde, er mithin also ein Beschuldigter sei.

Überlebende Opfer/Nebenkläger

Prozessbeginn John Demjanjuk

Der KZ-Überlebende und Nebenkläger Robert Cohen zeigt seine KZ-Tätowierung, die er in Auschwitz-Birkenau erhalten hat. Cohen verlor Angehörige im KZ Sobibor.

(Foto: dpa)

Überlebende Opfer/Nebenkläger

Überlebende NS-Opfer, die Demjanjuk belasten könnten, gibt es nicht. Im Münchner Prozess treten mehr als 30 Nebenkläger auf, die meisten von ihnen aus den Niederlanden. Sie alle haben in Sobibor mehrere Angehörige oder die gesamte Familie verloren - viele konnten zu Beginn der Verhandlung von ihrem bewegenden Schicksal berichten. Die Nazis hatten die Lager der "Aktion Reinhardt" so konzipiert, dass kein zur Vernichtung vorgesehener Jude diese Schreckensorte je wieder lebend verlassen konnte - nur aufgrund eines Häftlingsaufstands im Oktober 1943 überlebten überhaupt Opfer aus Sobibor.

Zwei von ihnen, die gebürtigen Polen Thomas Blatt und Philip Bialowitz, sind unter den Münchner Nebenklägern. Beide haben allerdings keine Erinnerung an Iwan Demjanjuk. Ebensowenig der Niederländer Jules Schelvis, der im Juni 1943 für mehrere Stunden in Sobibor war und dann für einen Arbeitseinsatz außerhalb des Vernichtungslagers ausgewählt wurde.

Dennoch scheint der Wachmann-Dienst und die Anwesenheit Demjanjuks im Lager Sobibor trotz aller Zweifel ganz gut belegt zu sein, über sein Handeln und mögliche konkrete Verbrechen in dem abgeschotteten Kosmos Sobibor konnte jedoch kaum Aufklärung geleistet werden.

Die Strategie der Verteidigung

Anwälte John Demjanjuks: Günther Maull (li.) und Ulrich Busch

Anwälte John Demjanjuks: Günther Maull (li.) und Ulrich Busch

(Foto: DAPD)

Die Strategie der Verteidigung

Demjanjuks Wahlverteidiger Ulrich Busch ist davon überzeugt, dass das US-Justizministerium und interessierte Kreise in Israel die treibenden Kräfte dieses Prozesses sind. Hintergrund die die Anklage und das Todesurteil gegen seinen Mandanten in Israel im Jahr 1988.

Demjanjuk war damals von überlebenden jüdischen Opfern beschuldigt worden, "Iwan der Schreckliche" aus dem Vernichtungslager Treblinka gewesen zu sein. Dies stellte sich - aufgrund neuer Akten aus der zerfallenden UdSSR - als Irrtum heraus. Er wurde vom Obersten Gerichtshof 1993 freigesprochen. Doch schon vor dem Todesurteil waren der US-Justizbehörde Office of Special Investigations (OSI) Unterlagen bekannt, die Demjanjuks Anwesenheit in Sobibor nahelegten. Diese Akten wurden allerdings unterschlagen - weil sie nicht zum Anklagevorwurf in Jerusalem passten.

Busch glaubt, dass nun zwei Jahrzehnte später Demjanjuk der "Justizräson geopfert" werden solle - sein Mandat dürfe offenbar nicht unverurteilt sterben. Aus diesem Grund seien der Staatsanwaltschaft München auch nur belastende Informationen übergeben worden, Entlastungsbeweise jedoch nicht. Buschs Strategie, von Anfang an voll auf Konfrontation zu setzen, hat die Beweiserhebung nicht gerade erleichtert. Busch hält die Richter und auch fast alle Zeugen und Sachverständigen grundsätzlich für befangen und überschüttete die Kammer mit zahllosen Anträgen. Er handelte sich daher schnell den Vorwurf der Prozessverschleppung ein.

Schon bald war die Atmosphäre so vergiftet, dass sich der Vorsitzende Richter Ralph Alt und Busch regelmäßig lautstarke Wortgefechte lieferten. Stets forderte Busch die Befragung Dutzender Zeugen, die Verlesung Tausender Seiten Akten und die Beiziehung von Unterlagen, die die Unschuld seines Mandanten beweisen sollen. Kurz vor Ende der Beweisaufnahme hat er nochmal mehr als 470 Anträge gestellt - auffallend ist dabei, dass das Gericht praktisch keinem nachgab. Mit wenigen Ausnahmen wurden Buschs Anträge als "unbegründet" oder irrelevant abgelehnt. Manche seien an der "Grenze zur Skurrilität" oder "ins Blaue hinein" gestellt, monierten die Richter. Ein Vertreter der Nebenklage bezeichnete Buschs Arbeitsweise als "Methode der organisierten Schlamperei".

Zur Entlastung seines Mandanten griff Busch zu einer verwirrenden und widersprüchlichen Strategie. Da Demjanjuk keine Angaben mache, wo er damals gewesen ist, dürfe die Verteidigung sämtliche Alternativen aufzeigen, die dessen Unschuld beweisen: Demjanjuk war die ganze Zeit Kriegsgefangener, Demjanjuk ist nicht die Person auf dem Ausweis, Demjanjuk war kein Trawniki, Demjanjuk war ein "zwangsrekrutierter" Trawniki, Demjanjuk war zwar in Sobibor, aber nicht an den Tattagen, Demjanjuk war Koch im Vernichtungslager Treblinka ...

Außer diesen inhaltlichen Fragen gibt es freilich noch eine Menge juristischer Problemfelder.

Problemfeld Tatnachweis

Prozess gegen John Demjanjuk wird fortgesetzt

John Demjanjuk erscheint im Rollstuhl sitzend zu seiner Verhandlung im Landgericht München II. Das Bett ist für den betagten Angeklagten vorgesehen.

(Foto: dapd)

Problemfeld Tatnachweis

Die Staatsanwaltschaft kann Demjanjuk keine konkreten Taten an konkret zu benennenden Opfern zu einer konkreten Tatzeit vorwerfen - ein solcher Tatnachweis ist im deutschen Rechtsstaat jedoch zwingend vorgeschrieben.

Staatsanwalt Lutz geht jedoch davon aus, dass in den Vernichtungslagern bei Ankunft eines Transports "jeder Angehörige des Stammpersonals an dem routinemäßigen Vernichtungsvorgang beteiligt" war. Er bedient sich damit der Theorie des Ermittlers Thomas Walther von der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg.

Der nennt Sobibor einen hermetisch abgeriegelten Raum, in dem es - anders als etwa in Konzentrationslagern - nur zwei Gruppen gab: Die kleine Gruppe der etwa 30 SS-Männer und der etwa 120 Trawnikis übten eine "unbeschränkte Herrschaft" aus über wehrlose, oft Tausende Juden, die dorthin mit dem einzigen Ziel der sofortigen Vernichtung deportiert worden seien.

Alle Mitglieder dieser herrschenden Gruppe seien daher mit "überwiegender Wahrscheinlichkeit verdächtig", am Holocaust teilgenommen zu haben. Strafrechtler räumen dieser Theorie - mit der juristisches Neuland betreten würde - aufgrund der Besonderheit der Verhältnisse in den Vernichtungslagern gute Chancen ein, wenngleich der Münchner Prozess zur Frage, ob denn alle Trawnikis in den Vernichtungslagern Mordgehilfen waren, wenig Erhellendes beigetragen hat.

Busch hält dieses Modell jedoch für verfassungswidrig. Er spricht von einer unzulässigen Umkehr der Beweislast. Gelänge der Staatsanwaltschaft der Nachweis einer Anwesenheit des Angeklagten in Sobibor, läge es an Demjanjuk, Nachweise für seine fehlende Tatbeteiligung vorzulegen. Ein solches Vorgehen sehe der Rechtsstaat nicht vor. Die Staatsanwaltschaft lasse hier vor allem "eklatante Lücken in der Beweisführung" erkennen, sie habe letztlich nur "Behauptungen" aufgestellt.

Problemfeld Befehlsnotstand

Im Archiv des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes (ITS) im nordhessischen Bad Arolsen ist die Identifikationskarte des mutmaßlichen NS-Kriegsverbrechers John Demjanjuk. Demnach hat sich Dem

Im Archiv des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes (ITS) im nordhessischen Bad Arolsen ist die Identifikationskarte des mutmaßlichen NS-Kriegsverbrechers John Demjanjuk gefunden worden. Demnach hat sich Demjanjuk nach dem Krieg als "Displaced Person" bezeichnet und damit ebenso wie befreite KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter als von den Nazis Verschleppter gegolten.

(Foto: dpa)

Problemfeld Befehlsnotstand

Ein in allen NS-Prozessen wichtiges Thema, ist in München nur am Rande behandelt worden: der strafbefreiende Befehls- oder Putativbefehlsnotstand. Unter Befehlsnotstand versteht man, dass Taten unter Druck unausweichlicher Gefahr für Leib und Leben begangen wurden; von Putativbefehlsnotstand ist auszugehen, wenn Beschuldigte nicht hatten wissen können, ob sie bei Befehlsverweigerung nicht selbst getötet werden würden.

Trawniki-Männer standen laut Anwalt Busch unter "absolutem Befehlsnotstand", sie hätten als unterste Glieder der Befehlskette jederzeit mit ihrem eigenen Tod rechnen müssen. Desertion sei keine "zumutbare Möglichkeit im Sinne des Ausschlusses eines Putativbefehlsnotstands" gewesen. Es stellt sich also die Frage, ob Demjanjuk dem Befehl, bei der Ermordung der Juden mitzumachen, wirklich so leicht wie die Anklage meint entgehen konnte. Busch verweist auf zahlreiche bekannte Beispiele, wonach geflohene Trawniki-Männer nach ihrer Gefangennahme schwer bestraft oder sofort erschossen wurden.

Den Hinweis auf zahlreiche erfolgreiche Desertionen lässt er nicht gelten - das Risiko, selbst getötet zu werden, habe stets bestanden. Hier weiß sich Busch einig mit der neueren historischen Forschung. "Wer mit der Waffe flüchtete, wurde in der Regel erschossen oder vor versammelter Mannschaft erhängt", sagte der Historiker Dieter Pohl im Prozess aus. Da Demjanjuk allerdings nicht sagt, ob er überhaupt in Sobibor war, ist es auch schwer für ihn, Putativbefehlsnotstand geltend zu machen. Es sei Aufgabe des Gerichts, diese Rechtsfrage zu klären, betonten die Richter mehrmals.

Zudem verweist Busch stets gern darauf, höher gestellte deutsche SS-Aufseher hätten sich in den 1960/1970er Jahren vor Gericht oft erfolgreich auf den Befehlsnotstand berufen - Rechtsexperten betonen dagegen einhellig, es gebe grundsätzlich keine "Gleichheit im Unrecht", also keinen Anspruch darauf, zu Unrecht freigesprochen zu werden, weil in vergleichbaren Fällen nicht ermittelt oder nicht verurteilt wurde.

Schwierige Aufgabe: Richter Ralph Alt

Schwierige Aufgabe: Richter Ralph Alt

(Foto: APN)

Problemfall deutsches Strafrecht

Problemfall deutsches Strafrecht

Ein erbitterter Streit tobt im Gericht auch darüber, ob im Fall Demjanjuk überhaupt deutsches Strafrecht anwendbar ist. Auf den ersten Blick stellt sich durchaus die Frage, warum eine Auslandstat (das Generalgouvernement wurde nicht ins Deutsche Reich eingegliedert) eines Ausländers (Ukrainers) zum Nachteil von Ausländern (vorwiegend holländische Juden) vor einem deutschen Gericht verhandelt werden kann. Anwalt Busch spricht hier von einer "Lex Demjanjuk" - bisher seien nämlich in Deutschland niemals nicht-deutsche NS-Täter, die ihre Tat im Ausland begangen haben, angeklagt worden. Den Fall seines Mandanten könne man nur als "selektive Strafverfolgung" bezeichnen.

Eng verbunden mit diesem Streit ist die Frage, ob ein "fremdvölkischer Hilfswilliger" als "Amtsträger eines staatlichen deutschen Amtes" bezeichnet werden kann - nur so würde das damals geltende Strafrecht für Ausländer bei Auslandstaten greifen.

Für die Ankläger ist die Ermordung der europäischen Juden eine "hohe Aufgabe" des Dritten Reiches gewesen, demnach seien diejenigen, die dafür eingesetzt waren, deutsche Amtsträger gewesen - selbst wenn diese nie deutsche Staatsbürger waren. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, Trawniki-Männer seien als Teil der deutschen SS- und Polizeieinheiten (mithin als Amtsträger) geführt worden.

Nach Buschs Meinung sind Trawniki-Männer dagegen keinesfalls Amtsträger gewesen, sondern "mit der Erledigung von Vollzugsmaßnahmen beauftragte Kriegsgefangene". Sie seien als Angehörige der Waffen-SS (mithin als Soldaten und nicht als Amtsträger) geführt worden. Das Oberlandesgericht München ist der Auffassung, die Frage, ob der Angeklagte Amtsträger war, unterliege "tatrichterlicher Würdigung". Auch grundsätzlich hält die Kammer deutsches Strafrecht für anwendbar, weil ein "hinreichender Tatverdacht" bestehe, das sich die Morde gegen deutsche Staatsangehörige richteten und weil die Trawnikis auch bei "Auslandstaten deutschem Strafrecht unterfielen".

Sogar von einer "Inlandstat" ist in einem Beschluss der Kammer die Rede.

John Demjanjuk vor dem Prozess in Jerusalem, 1993

John Demjanjuk in Jerusalem 1993. In der Hand hält er seine Entlassungspapiere.

(Foto: AP)

Problemfall Doppelbestrafung

Problemfall Doppelbestrafung

Ein immer wiederkehrender Streitpunkt ist auch das Problem der juristischen Doppelverfolgung. John Demjanjuk saß in Israel mehr als siebeneinhalb Jahre in Haft, davon fünf in der Todeszelle.

Sein Anwalt Busch ist der Ansicht, dass in Israel nicht nur wegen des Lagers Treblinka gegen seinen Mandanten verhandelt worden sei, sondern auch wegen Sobibor. Dies sei zwar im konkreten Fall keine unzulässige Doppelverfolgung, wonach niemand zweimal für dieselbe Tat verurteilt werden dürfe (Grundsatz Ne bis in idem). Jedoch müsste zumindest die Haftzeit in Israel bei einer möglichen Strafzumessung in München berücksichtigt werden.

Nach Buschs Rechnung müssten die fünf Jahre in der Todeszelle mindestens dreifach zugunsten des Angeklagten zu Buche schlagen - damit wäre aber die gesetzliche Höchststrafe für Beihilfe zum Mord von 15 Jahren bereits überschritten. Die Fortdauer der inzwischen fast zwei Jahre dauernden U-Haft in München könne daher als "verfassungswidriger Freiheitsentzug" gewertet werden.

Landgericht und Oberlandesgericht München sind dagegen der Auffassung, dass "in Israel weder Freispruch noch Verurteilung bezüglich einer Tätigkeit als Wachmann in Sobibor erfolgt ist und schon deshalb kein Verstoß gegen den Grundsatz Ne bis in idem im Hinblick auf das gegen den Angeklagten in Israel durchgeführte Verfahren vorliegt".

Wie auch immer das Urteil - es ist derzeit für Anfang Mai geplant - lauten mag, der Fall wird mit Sicherheit beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe zur Revision landen. Die Strafsache 1 Ks 115 Js 12496/08 wird also noch lange nicht abgeschlossen sein. Und sie wird - so oder so - Rechtsgeschichte schreiben.

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