Baden-Württemberg: Wahlanalyse:"Politische Schlachten der Vergangenheit"

Sind die Grünen die neue Volkspartei? Wie muss die CDU jetzt reagieren? Und wird Winfried Kretschmann als Ministerpräsident seine Anhänger enttäuschen müssen? Der Freiburger Politologe Ulrich Eith hat die Antworten.

Lena Jakat

Im Schwarzwald leitet der Politologie-Professor Ulrich Eith das Studienhaus Wiesneck für politische Bildung, in Freiburg die Arbeitsgruppe Wahlen. Am Tag danach analysiert er den historischen Machtwechsel in Stuttgart. Ein Gespräch über die Fehler des Wahlkampfs und die Zukunft der Grünen.

sueddeutsche.de: Herr Eith, es sieht so aus, als ob Winfried Kretschmann der erste grüne Ministerpräsident der Bundesrepublik wird. Wieso ist die Ökopartei so erfolgreich?

Ulrich Eith: Kurzfristig war es so, dass die aktuellen Themen alle auf die Grünen zugelaufen sind: Bei Stuttgart 21 ging es um direkte Demokratie - ein urgünes Thema. Das Gleiche gilt für die Atomdebatte. So wurden viele Grünen-Wähler mobilisiert. In der längerfristigen Perspektive hat die Mischung aus kleinstädtischen, ländlichen Milieus und Universitätsstädten in Baden-Württemberg die Grünen begünstigt. Hier sind die Gewerkschaften nur schwach organisiert. In der Stärke der Grünen spiegelt sich somit die Schwäche der Sozialdemokratie.

sueddeutsche.de: Gibt es noch weitere Besonderheiten der Südwest-Grünen, die diesen Erfolg möglich gemacht haben?

Eith: Dass dieser Landesverband ein besonderer ist, sieht man auch daran, dass eine ganze Reihe Bundes-Grüner von hier stammt. Eine der vielen Wurzeln der grünen Partei ist die Anti-Atom-Bewegung. Deren Symbol wurde der Ort Wyhl am Kaiserstuhl. Dort haben Bauern gemeinsam mit Studenten erfolgreich gegen den Bau eines Atomkraftwerks demonstriert. Die Grünen waren im Südwesten schon immer deutlich pragmatischer, früher hätte man gesagt eher "Realos" als "Fundis". Das ideologisch traditionell linke Milieu anderer Großstädte gibt es hier kaum.

sueddeutsche.de: Allerdings haben die Grünen auch in Baden-Württemberg ihre Hochburgen in den Universitätsstädten.

Eith: Wie überall hat sich auch in Baden-Württemberg ein Wählermilieu zwischen pragmatischen Grünen und moderner Union gefestigt. Sieht man sich die Wähler statistisch an, arbeiten sie als Beamte oder Angestellte, häufig in Dienstleistungsberufen. Sie sind überdurchschnittlich gebildet und verdienen überdurchschnittlich viel - sind also in diesem Punkt nicht weit von den FDP-Wählern entfernt. Bei den politischen Einstellungen gibt es aber allerdings sehr deutlich Unterschiede.

sueddeutsche.de: Sind die Grünen auf dem Vormarsch, weil die großen Parteien verlieren?

Eith: Die Union hat sich ganz auf ihre traditionellen Kernwähler ausgerichtet und einen alten Lagerwahlkampf geführt, in dem sie die Grünen als Dagegen-Partei zu diskreditieren versuchte. Das sind politische Schlachten der Vergangenheit, die nicht mehr funktionieren. Dazu kommen die Irritationen und Glaubwürdigkeitsprobleme der vergangenen Wochen. Die Grünen profitierten von der Katastrophe in Japan, dahinter steht aber auch eine überraschend große Unzufriedenheit mit der Landesregierung.

sueddeutsche.de: Manche sagen, die baden-württembergische CDU wäre 2006 gut beraten gewesen, eine schwarz-grüne Koalition einzugehen.

Eith: Dass Union und Grüne zusammenfinden könnten, wenn Personal und Inhalt stimmen, ist in Baden-Württemberg gar nichts Neues. In vielen Kommunen funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Schwarz und Grün. Davon hat sich die CDU in diesem Wahlkampf aber völlig abgewendet und auf das konservative Stammklientel konzentriert. Davon profitierten diesmal die Grünen.

sueddeutsche.de: Müssen sich die Christdemokraten also nicht nur personell - Mappus' Rücktritt wird ja bereits erwartet - sondern auch inhaltlich erneuern?

Eith: Auch die Bundes-CDU hat nach der gesellschaftspolitischen Modernisierung der großen Koalition - zum Beispiel Elterngeld und Kleinkinderbetreuung - zuletzt Anstrengungen unternommen, die konservativen Wähler wieder mitzunehmen. In Baden-Württemberg muss die Union allerdings zusehen, dass sie neben den traditionelleren Wählern in der Fläche auch die moderneren in den Städten wieder erreicht. Dafür wird sich die Partei auch personell neu aufstellen. Inhaltlich ist es eine weite Spanne, die es abzudecken gilt. Aber das ist die Aufgabe der Volksparteien.

sueddeutsche.de: Was genau ist eine Volkspartei - nach politikwissenschaftlicher Definition?

Eith: Das ist ein schwammiger Begriff. Grundsätzlich kennzeichnet eine Volkspartei, dass sie über ein breites Spektrum Verankerung in der Gesellschaft findet: In der Stadt wie auf dem Land, bei höher wie bei niedriger Gebildeten, bei sozial Schwächeren wie bei Eliten. Die Grünen hatten die größte Zustimmung allerdings in den Universitäts- und Dienstleistungsstädten.

sueddeutsche.de: Die Grünen sind also nicht die neue dritte Volkspartei?

Eith: Sicherlich nicht im traditionellen Sinne. Sieht man die Verteilung ihrer Wähler an, ist sie noch immer eine Milieupartei. Das kann sich allerdings ändern, wenn grüne Themen weiterhin die Debatte bestimmen und das Vertrauen in die anderen Parteien sinkt. Die Wahl in Baden-Württemberg ist ein wichtiges Signal. Ein grüner Ministerpräsident birgt großes Potential für die Partei, sich weiterzuentwickeln.

sueddeutsche.de: Lässt Winfried Kretschmanns Erfolg in Stuttgart auf gute Chancen für Renate Künast in Berlin schließen?

Eith: Das lässt sich nicht eins zu eins übertragen. Die Rahmenbedingungen und die aktuellen Themen dort sind völlig andere.

sueddeutsche.de: Seit Monaten erreichen die Grünen in Umfragen Rekordwerte. Droht den Grünen jetzt, in der Regierung, ein Absturz?

Eith: Eine Erklärung für die guten Ergebnisse ist sicherlich auch, dass die Grünen weder im Bund, noch im Land Regierungsverantwortung tragen. Das wird sich nun ändern. Winfried Kretschmann sieht sich als Ministerpräsident mit hohen Erwartungen konfrontiert - was beispielsweise Stuttgart 21 angeht. Aber hier gilt es, erst einmal eine gemeinsame Linie mit der SPD zu finden. Ein sofortiger Ausstieg aus dem Bahnhofsprojekt, wie ihn viele Gegner fordern, ist unwahrscheinlich. Kretschmann wird den einen oder anderen seiner Wähler auch enttäuschen.

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