Im Kino: Winter's Bone:Das vergessene Herz Amerikas

Schauspielerin Jennifer Lawrence ist mit dem vierfach oscarnominierten Film zum Star geworden - und den Zuschauer überkommt ein Hungergefühl: "Winter's Bone" erzählt hinreißend aus dem Inneren der unzugänglichen Backwoods.

Tobias Kniebe

Als die Dinge sich endlich klären, schlägt der Film noch einmal neu die Augen auf. Neonröhren summen an der Decke. Ketten klimpern im Luftzug. An der Wand hängt rostiges Eisengerät.

Themendienst Kino: Winter's Bone

Die 17-Jährige Ree (Jennifer Lawrence) missachtet alle Warnungen und geht auf die Suche nach ihrem untergetauchten Vater. Winter's Bone hat dafür auf dem Sundance Festival den Großen Preis gewonnen, und - als vielgeliebter Außenseiter - mit vier Nominierungen bei den Oscars mitgemischt.

(Foto: dapd)

Verschwommen nimmt man Gesichter wahr, Menschen im Halbkreis in einem Schuppen. Eine Frau, strähniges Haar, verwitterte Gesichtszüge, kommt ganz nah. "Du bist gewarnt worden," raunt sie mit tiefer Stimme. "Du wolltest nicht hören..."

Sie könnte in diesem Moment auch zu den Zuschauern sprechen. Zu all jenen, die sich auf Debra Graniks Film Winter's Bone eingelassen haben, die sich in die waldige Einsamkeit der Ozark Mountains entführen ließen. In eine Gegend mit dunkel drohenden Blockhütten, vor denen erlegtes Wild hängt; mit Schrotthaufen im Hof, rostenden Autowracks, Müll, bissigen Hunden. Und mit grimmigen, feindseligen Menschen, die hart und tonlos immer dieselbe Botschaft wiederholen: Dass man sich doch bitte verziehen möge - und zwar sofort.

Ja, Fremde sollen hier gleich wieder vertrieben werden. Wer sich dennoch nicht abschrecken lässt, wird mit einer faszinierenden Reise ins Herz Amerikas belohnt. Aber hart wird es trotzdem.

Im Film ist es die siebzehnjährige Ree (Jennifer Lawrence), die alle Warnungen missachtet hat und nach einem Knockout wieder die Augen aufschlägt. Ihre Backe ist geschwollen, Mund und Nase blutverkrustet, die blonden Haare zerzaust. Sie spuckt einen Zahn aus. "Was machen wir nun mit dir, Baby Girl?" fragt jemand, fürsorglich und bedrohlich zugleich. Ree lässt ihre Augenlider wie in Zeitlupe heruntersinken, müde, aber auch voll Verachtung für ihre Peiniger. Dann blickt sie wieder auf und sagt: "Mich töten, schätzungsweise."

Warnungen sollte man ernst nehmen in dieser Gegend, soviel ist sicher. Besonders als Fremder, als Eindringling, als - Gott bewahre - Voyeur. Niemand von außen steckt ungestraft seine Nase in diese geschlossene Welt, niemand von außen hat hier Regeln aufzustellen oder Paragrafen durchzusetzen, schon gar nicht dieser ferne feindliche Moloch, der Staat.

"Backwoods" nennt man dieses Universum in den USA: die Wälder hinter den Wäldern. Man kennt sie aus Sagen, Romanen und aus der populären Kultur. Zwei prägende Backwoods-Bilder hat zum Beispiel der Regisseur John Boorman geschaffen, als Fremder und Durchreisender in seinem Film Deliverance. Das eine war ein Junge am Wegesrand, mit Schlitzaugen und halbvergreistem, von Inzucht entstelltem Gesicht, der irrsinnig virtuos seine Banjo spielen konnte. Das andere war ein Stadtmensch, nackt in den Wäldern, dickliches, weißes, dreckbesudeltes Fleisch. Quieken musste er, quieken wie eine Sau, bevor die amoklaufende Libido des Waldmenschen über ihn herfiel, der zahnlos grinsende Jäger seine Hose aufknöpfte...

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie sich Ree vor der Clanjustiz verteidigt.

Ein Fall von Backwoods-Justiz

Solche Phantasmen sind präsent, auch in diesem Film. Sie sind immer präsent, wenn die Baumriesen höher werden und die Zivilisation zurückbleibt, wenn eine Geschichte die Asphaltstraße des Highways verlässt, um in einen ominösen Waldweg einzubiegen. Das Odium der Gefahr, dass den Fremden dort erwartet, ist schon so völlig verinnerlicht, dass es gar nicht mehr eigens thematisiert werden muss.

Doch Ree, die Gefangene des Maschinenschuppens, ist keine Fremde. Sie ist Teil der Familie, ein Mitglied des Clans, der hier nun zusammenkommt, um über ihr weiteres Schicksal zu befinden. Das ist das Neue, das Einzigartige an diesem Film. Winter's Bone hat dafür auf dem Sundance Festival den Großen Preis gewonnen, und - als vielgeliebter Außenseiter - mit vier Nominierungen bei den Oscars mitgemischt.

Daniel Woodrell, der Autor der Romanvorlage, stammt aus der Gegend. Die Ozark Mountains, die sich von Missouri aus über mehrere Bundesstaaten erstrecken, sind ein Gebiet fast so groß wie Griechenland. Aber hier soll es einmal nicht um das gehen, was Stadtmenschen an Angst und Angstlust in diese endlosen Wälder mitbringen - hier sollen sie anfangen, selbst zu sprechen. Und das passiert dann auch.

Viel reden sie allerdings nicht, das muss man gleich dazusagen. Und weniger harsch erscheinen sie anschließend auch nicht. Die zurückgenommene, wunderbar sinnliche Inszenierung von Debra Granik schafft aber etwas anderes: Wer in diesem Film ein Eichhörnchen sieht, denkt zuerst an das Hungergefühl im Magen, das damit gestillt werden könnte. Wer hier einen Stapel Brennholz taxiert, überschlägt im Kopf die Stunden, die noch bleiben, bevor sich die Kälte wieder durch die Wände frisst...

Und Ree im Maschinenschuppen, sie wurde wegen ihrer Hartnäckigkeit zusammengeschlagen, aber nun darf sie endlich reden vor dem Patriarch des Clans. Sie richtet sich auf und sieht dem alten Mann in die Augen: "Ich hab' zwei Kinder zu Hause, die sich noch nicht selbst versorgen können. Ich habe eine Mutter, die nie mehr gesund werden wird. Wenn mein Dad einen Fehler gemacht hat, hat er bezahlt. Ich muss nicht wissen, wer ihn getötet hat..."

Ein Fall von Clanjustiz, von Backwoods-Justiz. Rees Vater hat die Droge Meth gekocht, wie so viele hier, und er ist erwischt worden. Aber er hat noch mehr getan. Ree ahnt, was passiert ist - aber sie bräuchte Gewissheit. Nur wenn sie ihren Vater findet, bekäme sie die Kaution für ihn vom Gericht zurück, und ohne diese Kaution wird ihr Haus in den nächsten Tagen zwangsgeräumt: "Wir werden dort rausgeworden und aufs Feld gejagt, wie Hunde."

Die Schauspielerin Jennifer Lawrence, die mit Winter's Bone zum Star geworden ist, spuckt diese Worte trotzig aus ihrem blutigen Mund hervor - als Fakten, die weder Mitleid noch Trost verlangen. Ree will nur endlich gehört werden, und das wird sie auch. Wie viel Tapferkeit sie aber noch brauchen wird, bis sie am Ende ihrer unvergesslichen Reise ankommt - das ahnt sie noch nicht.

WINTER'S BONE, USA 2010 - Regie: Debra Granik. Buch: Granik, Anne Rosellini. Kamera: Michael McDonough. Mit Jennifer Lawrence, John Hawkes, Dale Dickey, Verleih: Ascot Elite, 104 Min.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: