Tschernobyl und Weißrussland:Ein neuer Atommeiler für ein traumatisiertes Land

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Die Katastrophe von Tschernobyl hat Weißrussland hart getroffen - nun plant Präsident Lukaschenko einen neuen Meiler. Für manche ist das alles einfach nur noch ein Verbrechen.

Frank Nienhuysen, Astrawez

Es war natürlich mutig von ihm, die Kampagne schärfer zu formulieren. Schließlich hätte er auch einfach formulieren können: "Stoppt das Atomkraftwerk". Aber für Nikolaj Ulasewitsch wäre das zu wenig gewesen. Er sagt selber, "ich bin ein impulsiver Mensch, gerade heraus", und so nannte er seine Initiative so, wie er die Sache sieht: "Das Atomkraftwerk ist ein Verbrechen."

Tschernobyl - nach dem Super-Gau: Nur vier Kilometer vom Reaktor entfernt lebten in Pripjat rund 50.000 Menschen. Am Mittag des 27. April 1986 befehlen die Behörden die Evakuierung der Industriestadt (Foto: dapd)

Ulasewitsch, 60 Jahre alt, Geographie-Lehrer, redet kraftvoll, bestimmt und brausend schnell. Nur über die zwei persönlichen Zwischenfälle spricht er zurückhaltend; sie machen ihm zu schaffen. Ulasewitsch sagt, dass der Sicherheitsdienst KGB einen Auffahrunfall inszeniert habe. Offiziell aber traf die Schuld ihn, etwa 250 Euro Strafe musste er bezahlen. Und plötzlich kam auch noch die Behörde in sein Haus und stellte einen Verstoß gegen die Feuerschutzbestimmungen fest. Wieder 250 Euro Strafe, in Weißrussland ist das viel Geld. Für Ulasewitsch ist klar, er soll eingeschüchtert werden. Und alles wegen Astrawez.

Rosatom baut das neue AKW

In Astrawez ist noch nicht viel zu sehen außer Lehm, Sand, Reifenspuren und einem Schild, auf dem schwarz auf gelb steht, dass hier ein Atomkraftwerk gebaut werden soll. Im Nordwesten von Weißrussland, 20 Kilometer von der litauischen Grenze entfernt. Es ist das erste in dem Land, das wie sonst keines vor 25 Jahren vom Tschernobyl-Unfall getroffen und mit radioaktivem Fallout bedeckt wurde. Nun erhält es seinen ersten Meiler. Gebaut vom russischen Konzern Rosatom.

Als vor vier Wochen im Fukushima-Reaktor japanische Arbeiter aufopfernd gegen die Katastrophe kämpften, unterschrieben Präsident Alexander Lukaschenko und der russische Premier Wladimir Putin demonstrativ die Verträge. Das Atomkraftwerk in Astrawez sei auf dem neuesten Stand und viel sicherer als das japanische, erklärten sie. 2017 soll der Betrieb beginnen - für Ulasewitsch ein Desaster. "Wir brauchen verschiedene Energiewege, aber so macht sich Weißrussland völlig abhängig von Russland", sagt er. "Für Moskau geht es doch nur um einen Vorposten am Rande der EU."

Man muss das nicht so sehen wie Ulasewitsch, auch woanders wollen nicht alle aus der Atomenergie aussteigen. Andererseits: In einem Land, in dem Wahlen gefälscht, Präsidentschaftskandidaten inhaftiert, Medien gegängelt werden, ist die Wahrheit über Zuversicht und Misstrauen angesichts der Atomtechnik schwer zu bestimmen. Spricht Angst aus der älteren Frau, die sagt, ihr sei es egal, ob in der Nähe ein Kernkraftwerk entsteht? Ist es schweigende Zustimmung, wenn es nicht zu einem Bürgerbegehren gegen Atomkraft kommt, oder ist es eher die Furcht vor Repressionen, dem Verlust der Arbeitsstelle? Es gab eine öffentliche Anhörung zu Astrawez. Aber es heißt auch, der kritische Atomphysiker und Umweltschützer Andrej Ocharowskij sei trotz Registrierung erst gar nicht in den Saal hineingelassen worden, ja sogar wegen einer leichten Form des Hooliganismus für sieben Tage festgenommen worden.

Das Trauma dauert an

Das Trauma von vor 25 Jahren dauert an, und nun wird es noch überlagert von den frischen Bildern aus Japan. Viele Weißrussen taumeln zwischen Tschernobyl und Fukushima, und mittendrin belastet sie jetzt der geplante Bau eines eigenen Atomkraftwerks. Können sie den autoritären weißrussischen Behörden bei einem Störfall später trauen, wenn schon der japanische Betreiber Tepco ratlos wirkt und wegen seiner dürftigen Informationen kritisiert wird?

"Alles muss sofort gesagt werden, es darf nichts verheimlicht werden", sagt jedenfalls Wladimir Gorin und fügt hinzu, "ich kann nur für mich sprechen." Gorin ist stellvertretender Hauptingenieur für den geplanten Reaktor, nun steht er im Informationszentrum von Astrawez und sagt, dass der Fall Fukushima auch in Weißrussland nicht einfach ignoriert werden kann. "Wir müssen natürlich über das System nachdenken." Was ist bei einem Flugzeugabsturz, wie steht es mit der Kühlung, der Stromversorgung? Aber natürlich ändert all dies auch nichts am Beschluss, dass Weißrussland sein Projekt durchziehen wird.

Die ersten beiden Reaktoren sollen jeweils 1,2 Megawatt Leistung haben, 2200 Arbeitsplätze werden voraussichtlich entstehen. Weißrussland braucht Geld, zum einen den Milliardenkredit von Russland für den Bau des Meilers, dann aber hofft Minsk auch, Strom ins Ausland verkaufen zu können. Gorin sagt, "bisher sind wir ganz auf Gas angewiesen, wir brauchen andere Energieformen". Mit Astrawez soll die Kernenergie bis zu einem Drittel des Strombedarfs decken. In Astrawez sind Broschüren ausgelegt, garniert mit dem Foto einer saftig grünen Wiese und einem wunderschön ausladenden Baum. Es gibt einen Katalog von Fragen und Antworten, die die Sorgen der Menschen aufgreifen.

Batka hat entschieden

Glaubwürdige Umfragen über die Atompolitik gibt es nicht. Doch wenn man die Strahlenkarte des Landes ansieht, die Flecken belasteter Gebiete, dann ist es für viele schwer vorstellbar, dass die Bedenken vernachlässigbar gering sind. "In meinem Herzen bin ich gegen Atomkraftwerke", sagt Walentina Nikitenko, die in der Nähe von Tschernobyl Kinder aus verstrahlten Häusern und Schulen herausholte, später wegen der Strahlenfolgen ihren Mann verlor und selber sechs Mal operiert werden musste. "Aber Batka hat entschieden." Mit Batka meint sie den Präsidenten, Lukaschenko.

Eine nennenswerte Bürgerbeteiligung, einen organisierten Widerstand, gar Massenproteste, gibt es bisher nicht. Wer weiß schon, wie das enden könnte, nach den Massenfestnahmen bei der Wahl im vergangenen Dezember. "Die Regierung hat gesagt, wir werden debattieren, aber natürlich nur in dem Sinne, wie man den Meiler sicher baut", sagt Tatjana Nowikowa von der Umweltschutzorganisation Ökodom. "Offen zu protestieren, traut sich seit dem Polizeieinsatz bei der Präsidentenwahl derzeit keiner. Die Menschen sind verängstigt."

Zusammen mit anderen Umweltgruppen hat Ökodom einen Brief an den russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew geschrieben. Darin bitten die Aktivisten, dass Russland das Atomkraftwerk in Weißrussland nicht bauen solle, weil die Entscheidung nicht auf demokratischem Weg zustande gekommen sei und die örtliche Bevölkerung gegen den Meiler sei. Nowikowa sagt, "Medwedjew hat inzwischen geantwortet, jedenfalls das russische Präsidialamt". Sie zögert die Antwort hinaus, dann lächelt sie und sagt, "unsere Bitte werde gerade geprüft - vom Bauherrn Rosatom".

© SZ vom 18.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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