Armut in Deutschland:"Kinder brauchen mehr als zehn Euro für den Sportverein"

Lesezeit: 2 min

Der Sozialwissenschaftler Rolf Rosenbrock kritisiert die Mängel des Bildungspakets für arme Familien und die jahrelange Ignoranz der Politik.

Felix Berth

Rolf Rosenbrock leitet die Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin. Seit dreißig Jahren setzt er sich für eine Gesundheitspolitik ein, die auf soziale Unterschiede Rücksicht nimmt.

SZ: Das Bildungspaket soll die Chancen benachteiligter Kinder erhöhen. Warum sind Sie nicht zufrieden damit?

Rosenbrock: Abgesehen davon, dass das Bildungspaket bislang nicht funktioniert - es ist bestenfalls ein sehr kleines Teilchen in einem Puzzle, das viel größer sein müsste. Arme Kinder brauchen mehr als zehn Euro für den Sportverein.

SZ: Was verlangen Sie?

Rosenbrock: Wir brauchen eine Strategie, die auf den Abbau von Armut setzt. Denn wir wissen: Kinder aus armen Familien sind deutlich häufiger krank als ihre wohlhabenden Altersgenossen. Sie leben seltener in einem Netzwerk sicherer Beziehungen und haben weniger Erfolgserlebnisse. Sie erhalten weniger Anregungen, entwickeln weniger eigene Ziele, sind dann schlechter in der Schule. Sie landen später bestenfalls in eher ungesunden Jobs und entwickeln schon ab Kindheit eine Lebensweise, von der wir wissen, dass sie zu mehr Krankheit und zu kürzerem Leben führt.

Einen großen Teil dieser Probleme kann man kompensieren: mit partnerschaftlicher Betreuung um die Geburt durch Familienhebammen, mit systematischem Ausbau der Frühförderung, mit besserer Unterstützung von Elterngruppen, mit starken Anreizen zum frühen Kita-Besuch, einem Ausbau der Kitas zu anregenden Lernräumen. All das ist bekannt und ist Konsens unter Gesundheitswissenschaftlern.

SZ: Sie waren mehr als zehn Jahre lang im Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen. Da hätten Sie das von der Bundesregierung verlangen können.

Rosenbrock: Was glauben Sie, was wir getan haben? Sie müssen sich nur anschauen, welche Expertise die Minister der schwarz-gelben Bundesregierung beim Amtsantritt auf ihren Schreibtischen vorfanden. Da lagen 300 Seiten Gutachten des Sachverständigenrats zur Kindergesundheit, in denen genau das gefordert wird. Der Kinder- und Jugendbericht kam zum gleichen Ergebnis. Das Robert-Koch-Institut und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung - die beiden zuständigen Bundesbehörden - haben ein Aktionsprogramm vorgelegt.

Doch was tut Gesundheitsminister Philipp Rösler? Er sagt ein Jahr lang nichts zum Thema Kinder und Jugendliche. Dann regt er eine neue Gebührenposition "Gesundheitsberatung" für Kinderärzte an. Es fällt schwer, so was als Ignoranz abzutun.

SZ: Dem Bund fehlt vielleicht nur das Geld für ambitionierte Politik.

Rosenbrock: Wir brauchen keine Riesensummen. Wir müssen nicht alle Kinder in Deutschland massiv unterstützen. Den meisten geht es besser als je zuvor. Ungefähr achtzig Prozent leben in besseren gesundheitlichen Bedingungen als jede Generation zuvor - ihnen fehlen weder Geld noch Förderung noch elterliche Zuwendung. Sie profitieren davon, dass Deutschland seit sechzig Jahren in Frieden und relativem Wohlstand lebt.

Aber wir wissen, dass das bei zwanzig Prozent nicht so ist. Diese Kinder müssen wir schützen und unterstützen - es gibt Handlungsbedarf bei einer ziemlich klar definierten Gruppe. Hier zu helfen ist viel billiger als eine Kindergelderhöhung´.

© SZ vom 26.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: