Japan nach der Katastrophe:Verstrahltes vom Bauernmarkt

Die Landwirtschaft in Japan leidet unter der Atomkatastrophe: Bauern aus Fukushima protestieren, weil sie ihr Gemüse nicht mehr verkaufen dürfen. Gleichzeitig denkt die Regierung darüber nach, die Grenzwerte anzuheben.

Christoph Neidhart, Tokio

Mitten in Tokio, nicht weit von der Ginza, der teuersten Einkaufsmeile der Welt, ist in den letzten Tagen etwas entstanden, was es hier nie gab - Bauernmärkte. Aus Kartons verkaufen Leute aus Fukushima und den benachbarten Präfekturen, meist die Landwirte selbst oder Verwandte, Gemüse, deren Vertrieb über den Handel verboten ist. Ihre Ware sei geprüft, sagt ein Bauer aus Tochigi, auch der Spinat, er habe die Grenzwerte nie überschritten. Und es gibt sogar Kunden, die hier kaufen - aus Solidarität.

Protest of Fukushima Farmers in front of TEPCO in Tokyo

Bauern aus Fukushima protestieren vor der Tepco-Zentrale.

(Foto: dpa)

In den Supermärkten dagegen meiden viele Hausfrauen Lebensmittel aus den Erdbeben-Präfekturen. Milch aus dem fernen Hokkaido ist begehrt. Aber einige Regierungskantinen servieren trotzdem Blattgemüse aus den Tohoku-Präfekturen; also Gemüse, deren Vertrieb die gleiche Regierung gestoppt hat. Das zeigt das Dilemma: Einerseits fürchtet die Regierung in Tokio, die jüngst einige Lebensmittelskandale durchzustehen hatte, um das Auskommen der betroffenen Bauern, andererseits ist der Ruf der japanischen Landwirtschaft in Gefahr, die in den letzten Jahren vermehrt auf den Export setzen will.

Der Schutz der Konsumenten scheint in diesen Überlegungen sekundär. Die Regierung von Premier Naoto Kan betont, die Gesundheit der Menschen sei "nicht unmittelbar gefährdet", wenn sie Gemüse äßen, dessen Strahlung die Grenzwerte überschritten habe. Man müsste dieses schon über längere Zeit zu sich nehmen. Erwogen wird außerdem, einige Grenzwerte anzuheben. Und gegen Internet-Nutzer soll vorgegangen werden, weil die angeblich "falsche Gerüchte" über die Verstrahlung von Lebensmittel streuten.

Mehr als 200 Bauern haben am Dienstag vor dem Hauptquartier des japanischen AKW-Betreibers Tepco demonstriert. Die Bauern brachten zwei Kühe zu ihrem Protest nach Tokio mit. Vor den Büros von Tepco hielten sie Schilder mit der Aufschrift "Stoppt Atomenergie" hoch, reckten die Fäuste in die Höhe und skandierten Slogans. Die Regierung Kan ist bisher unbeeindruckt und reduziert die Verstrahlung landwirtschaftlicher Produkte auf ein Public-Relations-Problem. In der Bevölkerung kommt das schlecht an. Niemand weiß, was gilt. Das verunsichert die Leute und drückt die Preise zusätzlich.

Neben Gemüse ist Fukushima ein wichtiger Standort für Pfirsiche, Äpfel, Birnen und für Tabak. Alle diese Produkte dürften betroffen sein, zumal die Strahlung in der Umgebung des AKW weiter steigt. Die derzeitigen Liefersperren und die Angst der Konsumenten werden sich zunächst in den betroffenen Regionen auswirken. Einige Produzenten werden aufgeben müssen, zumal die Bauernschaft überaltert ist und sich bisher auf Gastarbeiter aus China stützte, die nach dem Erdbeben und der Atomkatastrophe nach Hause zurückgekehrt sind.

Japan importiert fast ein Drittel seines Gemüses, vor allem aus China, seine eigene Produktion geht seit Jahrzehnten stetig zurück, dieser Trend dürfte sich in der betroffenen Region noch beschleunigen. Deutlicher wird die Versorgung mit Fleisch und Milch beeinträchtigt werden. Ein Viertel der Schweine- und 18 Prozent der Rinderproduktion waren in der Erdbeben-Region angesiedelt, allerdings zumeist weit hinter der Küste. Wie viele Betriebe durch das Erdbeben Schaden genommen haben, ist noch nicht bekannt. Da in Japan Kälber meist vom Züchter an einen Mäster weitergegeben werden, der die Rinder zur Endmast womöglich noch einmal weiterreicht, dürften viele solcher Ketten nun unterbrochen sein. Zudem ist nach dem Tsunami in vielen Kühlhäusern der Strom ausgefallen. Das dort gelagerte Fleisch ist nun verdorben. Schätzungen zufolge gingen 8000 Tonnen Rind-, 29.000 Tonnen Schweinefleisch und 26.000 Tonnen Huhn verloren.

Dazu kommt: Japans Viehbauern sind auf Futtergetreide angewiesen. Der Tsunami hat manche Anbauflächen für Weizen und Reis überflutet, zahlreiche Futtermühlen standen an der Küste. Sie sind zerstört, ihre Silos ebenso. Die Futtergetreide-Preise werden deshalb zwangsläufig steigen. Das wird Japans Milch- und Fleischproduktion verteuern. Und weil Japan noch mehr Fleisch als bisher importieren muss, dürften auch die internationalen Weizen- und Fleischpreise wegen der Katastrophe anziehen.

Reis ist in Japan nicht nur ein Nahrungsmittel, sondern ein nationales Symbol. Dieser Tage beginnen die Bauern der Tohoku-Region damit, die Reis-Setzlinge in die gefluteten Felder einzubringen. In den vom Tsunami überschwemmten Gebieten ist das in diesem Jahr allerdings nicht möglich. Wo der Boden kontaminiert ist, hat die Regierung den Reisanbau inzwischen verboten. Radioaktiv verseuchter Reis, das wäre ein neuer Albtraum. Aus der Region um Fukushima kam im vorigen Jahr fünf Prozent der japanischen Reisernte. Ein großer Teil davon wird nun ausfallen. Und niemand weiß, ob die Bodenkontamination den Reisanbau auch im kommenden Jahr verhindern wird. Wahrscheinlich ist, dass der Reis von Fukushima seinen guten Ruf verlieren wird.

Im übrigen Japan und im Ausland werden sich die Probleme kaum auswirken. Die japanische Regierung kann den Ernteausfall kompensieren, wenn sie will. Sie sitzt auf Reisreserven aus japanischer Produktion von einer Million Tonnen. Dazu auf 900.000 Tonnen importiertem Reis. Nach Erkenntnissen der Welthandelsorganisation WTO muss Tokio jährlich über 600.000 Tonnen Reis einführen. Dieser Import-Reis ist bisher nie zum Verkauf freigegeben worden, weil Japaner, so die offizielle Begründung, keinen Importreis wollen, der auch noch viel billiger wäre. Er wurde zu Reisgebäck und ähnlichem verarbeitet; oder einfach gelagert.

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