Direkte Demokratie in Deutschland:Wo der Bürger noch Zuschauer ist

Parteien kommen leichter an die Macht als Bürger zu einem erfolgreichen Volksentscheid. Das zeigt: Demokratie wird allzu oft als Regieren für das Volk verstanden, nicht als Regieren durch das Volk. Grün-Rot sollte das bei ihrer Entscheidung zu Stuttgart 21 beachten.

Lutz Wingert

Lutz Wingert ist Professor für Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und Mitglied des Zentrums für Geschichte des Wissens an der Universität und ETH Zürich.

Grün-Rot einig bei Volksentscheid über Stuttgart 21

Der designierte baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (links) und SPD-Landeschef Nils Schmid sollten auf das Votum des Volkes hören, auch wenn der Volksentscheid am Quorum scheitert.

(Foto: dpa)

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Fukushima und Stuttgart eine neuerliche energiepolitische Wende verkündete, erblickten flinke Spiegelfechter sogleich noch eine andere Wende: die Hinwendung zur direkten Demokratie. Ab jetzt, so die Klage, regiere endgültig des Volkes wankelmütige Stimmung. Das Misstrauen gegen Formen der direkten Demokratie sitzt in Deutschland tief. Volksabstimmungen werden schnell mit der Herrschaft von Stimmungen der leicht entflammbaren, launischen Bürger assoziiert. Folgerichtig hat man Sicherungen gegen ein Übergreifen von Stimmungen auf die komplizierte Gesetzgebung eingebaut.

In Baden-Württemberg ist der demokratiepolitische Brandschutz besonders ausgeprägt. Mindestens 33 Prozent der Stimmberechtigten müssen sich an einer Volksabstimmung über ein Gesetz beteiligen. Erst dann wird eine Mehrheit unter ihnen für ein Ja zu einem bindenden Volksentscheid. Die angepeilte Volksabstimmung über den milliardenschweren Tunnelbahnhof Stuttgart 21, so die Prognose, wird diese Hürde kaum überspringen. Dagegen liegt die Hürde für die Bildung einer Landesregierung sehr viel tiefer. In diesem Fall gibt es nämlich gar kein Quorum, wenn man von der Fünf-Prozent-Klausel absieht. Gemessen an der Zahl der Stimmberechtigten haben seit 2001 die jeweiligen Regierungsparteien die 33-Prozent-Hürde nicht geschafft.

Offenkundig ist es schwerer für die Bürger, einen Volksentscheid ins Ziel zu bringen, als es für die Parteien ist, an die Regierung zu kommen. Soll man daraus schließen, dass ein Volksentscheid zu einer einzelnen Frage wichtiger ist und also strengere Vorgaben erfüllen muss als die Bildung einer Regierung? Wohl kaum. Die ungleichen Bedingungen zeigen etwas anderes: Demokratie wird maßgeblich als Regieren fürs Volk, nicht durch das Volk verstanden. Dabei kommen die Bürger ohne Verbands- oder Investorenmacht hauptsächlich als Zuschauer vor. Ihnen bleibt das Recht, an Wahltagen Generalvollmachten an die vermeintlichen Entscheider auszustellen oder zurückzunehmen.

Das ist aber zu wenig. Denn zwischen den Wahltagen werden ja oft weitreichende und unumkehrbare Entscheidungen getroffen. Und diese werden von den gewählten Repräsentanten der Bürger nicht ohne den Druck mächtiger Akteure getroffen. Lobbyisten wie der RWE-Chef Jürgen Großmann oder der Deutsche- Bank-Vorstand Josef Ackermann sind öfter im Kanzleramt. Welche Zugangsschranken mussten sie überspringen, um auf die Gesetzgebung Einfluss nehmen zu können?

In einer Demokratie darf die Stimmabgabe der Bürger ohne Markt- und Verbandsmacht nicht auf eine Stimmpreisgabe bis zur nächsten Wahl hinauslaufen. Volksabstimmungen können dazu beitragen, dies zu verhindern.

Es ist jedoch falsch, Volksabstimmungen und repräsentative Demokratie gegeneinander in Stellung zu bringen. Denn Repräsentation bedeutet ja zunächst einmal nur, dass etwas präsent gemacht wird, das zwar abwesend, aber wichtig ist. Die gewählten Politiker sind Repräsentanten, die die Stimmen der abwesenden Bürger ebenso zu Gehör bringen sollen, wie sie unbeachtete Aspekte präsent machen sollen. Allerdings sind Repräsentanten keine reinen Sprachrohre. Sie sind es nicht, weil die Meinungen der Bürger bisweilen nur diffus sind.

Man möchte für sich und die anderen eine gute, bezahlbare Gesundheitsversorgung. Aber welche Kassenleistungen gehören zu einer "guten Versorgung"? Auch sollten die Repräsentanten keine reinen Sprachrohre sein, weil die zunächst bekundeten Interessen nicht immer schon im Einklang mit dem stehen, was, für alle zusammen betrachtet, gut oder besser ist. Repräsentanten, die nur Sprachrohre sind, werden schnell zu Klientelpolitikern.

Der Winter des Missvergnügens

Der beliebte Schluss daraus ist, die Bürger zu den Entscheidungsprozessen auf Distanz zu halten. Die Distanz zu den Bürgern sichere Vernünftigkeit und Gemeinwohlorientierung in der Politik, lautet das Argument. Angesichts der jüngsten Beispiele für betrügerische, erfahrungsimmune und verantwortungslose Eliten in Politik und Finanzwelt ist das einmal mehr ein frecher, elitärer Fehlschluss. Man fährt besser damit, den Tunnelblick der Betroffenen durch größere Einbeziehung der Bürger in den politischen Streit zu korrigieren.

Volksabstimmungen haben hier ihre Funktion, die Demokratie repräsentativer zu machen. Sie können mit ihrem klar umrissenen Sachbezug wichtige, aber bislang in der Debatte abwesende Gesichtspunkte und Alternativen präsent machen. Überdies erlauben sie den Bürgern, die Interpretationen, Übersetzungen und Gewichtungen ihrer Wahlstimmen durch die Parteien, Verbände und Medien zurückzuweisen. Die Bürger können sich so hörbar in die Diskussion darüber einmischen, was sie "eigentlich wollen". Darüber hinaus sind Volksabstimmungen dafür geeignet, ein generelles Votum der Bürger für die Programmpakete der Parteien durch eine spezifische Stellungnahme zu einer ganz bestimmten Angelegenheit zu ersetzen. So wird eine genauere Repräsentation des Wählerwillens in einer Sachfrage ermöglicht.

Das Demokratielaboratorium

Natürlich sind Volksabstimmungen kein Allheilmittel, mit dem die Demokratie als gemeinwohlorientierte Selbstbestimmung der Bürger kultiviert werden kann. Damit Volksabstimmungen ihren Zweck erfüllen können, sind nicht nur gewisse, niedrigere Hürden am Ende des Willensbildungsprozesses, sondern anspruchsvolle Bedingungen am Anfang nötig. Dazu gehört es, Vorschläge und Gegenvorschläge zur Abstimmung vorzulegen und, vielleicht in Form von Bürgerparlamenten oder Mediation, die Argumentationslasten für Pro und Contra fair zu verteilen. Das aktuelle Stuttgarter Demokratielaboratorium hat dafür genug Anschauungsmaterial geliefert.

Es spricht deshalb nichts dagegen, dass die Landesregierung dort das mehrheitliche Votum der Bürger zu Stuttgart 21 auch dann beachtet, wenn dieses Votum an der Hürde eines bindenden Volksentscheids scheitert. Das Votum der Bürger wäre dann eine politische Stellungnahme, die die Regierung für sich als maßgeblich in eigener Verantwortung bekräftigt.

Das verfassungsrechtlich Bindende ist das oberste politische Maß, aber es erschöpft das politisch Maßgebliche nicht. Insbesondere dann nicht, wenn das Maßgebliche die Einbeziehung aller Bürger in eine Debatte ist. So würde der "Winter des Missvergnügens" (Shakespeare) an der real existierenden Demokratie nicht in den deutschen Frühling hinein verlängert werden.

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