Sicherungsverwahrung:Wer nicht gefährlich ist, darf vielleicht gehen

500 Straftäter werden im Gefängnis festgehalten, obwohl sie ihre Strafe verbüßt haben. In vielen Fällen werden die Gerichte nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Entlassung anordnen müssen. Die große Unbekannte in der Übergangsregelung ist die "psychische Störung".

Wolfgang Janisch

Während die Justizminister über die Umsetzung des Karlsruher Urteils zur Sicherungsverwahrung nachgrübeln, plagt viele Menschen eine konkrete Sorge: Wie viele Straftäter müssen nun freigelassen werden? Wie schon nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), ist das anschwellende Grollen des Boulevards zu vernehmen: "Kommen bald 500 Mörder und Vergewaltiger auf freien Fuß?"

Saemtliche Regelungen zur Sicherungsverwahrung verfassungswidrig

Einfach wegsperren geht nicht mehr - künftig muss der Staat viel mehr Therapien anbieten.

(Foto: dapd)

Die Wahrheit ist: Am Tag eins nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kann niemand auch nur einigermaßen zuverlässig prognostizieren, wie viele der derzeit etwa 500 in Sicherungsverwahrung sitzenden Straftäter als Konsequenz der Entscheidung freikommen werden. Sicher ist aber auch: In nicht wenigen Fällen werden die Gerichte die Entlassung anordnen müssen.

In erster Linie sind dies diejenigen Sicherungsverwahrten, die von der EGMR-Rechtsprechung betroffen sind. Ganz genaue Zahlen gibt es nicht, aber mit Hilfe der Angaben des Bundesjustizministeriums kommt man - wenn man die bereits Entlassenen abzieht - auf bundesweit vielleicht 110 Personen, deren Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet oder verlängert wurde. Ihre Fälle müssen "unverzüglich" neu geprüft werden, und zwar nach sehr strengen Kriterien: Nur bei einer hochgradigen, aus konkreten Umständen ableitbaren Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten dürfen sie weiter verwahrt werden, und dies auch nur, wenn eine "psychische Störung" diagnostiziert wird. Fehlt es daran, sind sie spätestens zu Weihnachten draußen.

Der Tübinger Strafrechtsprofessor Jörg Kinzig rechnet damit, dass aus dieser Gruppe die Mehrheit entlassen werden muss. Der nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) weist darauf hin, dass von den 18 jüngst in NRW Entlassenen inzwischen nur sechs als hoch gefährlich einstuft werden müssen; ließe sich diese Quote hochrechnen, kämen bundesweit 70 Leute raus.

Was "schwerste" Straftaten sind, kann man nicht pauschal beurteilen. Entscheidend dürften die Umstände früherer Taten sein: Hat der Täter besonders gewalttätig gehandelt, hat er Menschen über einen langen Zeitraum gequält, hat er seine Opfer wahllos herausgegriffen? Dagegen wird man den Pädophilen, der gern Kinder betatscht, aber bisher nie weiter gegangen ist, kaum dazurechnen können. Der notorische Dieb, der in Karlsruhe geklagt hatte, darf jedenfalls mit baldiger Entlassung rechnen.

Die große Unbekannte in der höchstrichterlichen Übergangsregelung ist jedoch die "psychische Störung". "Das ist ein Gummibegriff", schimpft Wolfgang Retz vom Institut für gerichtliche Psychiatrie an der Universität des Saarlands. Zwar enthält das Karlsruher Urteil den Hinweis, darunter könne etwa eine dissoziale Persönlichkeitsstörung oder eine Psychopathie fallen - aber genau diese Definition ist Teil des Problems. Denn die dissoziale Persönlichkeitsstörung sei eben keine Krankheit, sondern mache sich an bestimmten Verhaltensmerkmalen fest - zum Beispiel daran, dass sich jemand nicht an Regeln halten kann. Die Gefängnisse, sagt Retz, seien voller solcher Menschen, etwa 70 Prozent hätten eine Persönlichkeitsstörung.

Dennoch steht nicht zu erwarten, dass die Gerichte nun den Begriff künstlich aufblähen und jede erdenkliche Macke heranziehen, um bloß die Sicherungsverwahrung fortdauern zu lassen. Weil Richter regelmäßig über die Schuldfähigkeit von Angeklagten befinden, haben sie durchaus Erfahrung im Umgang mit Persönlichkeitsstörungen, die sich jenseits von Psychosen bewegen. Die Leitlinien gibt der Bundesgerichtshof (BGH) vor. Dessen Strafsenate urteilten schon bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung äußerst restriktiv. Auch bei der Zuerkennung der Schuldunfähigkeit ist das Gericht traditionell zurückhaltend; immerhin ist die klare Trennung zwischen psychisch Kranken und Straftätern eine Errungenschaft des modernen Strafrechts. So hat etwa der 3. Strafsenat vor einiger Zeit einige paranoide Auffälligkeiten, verbunden mit einer Aufmerksamkeitsstörung, nicht einmal für eine verminderte Schuldfähigkeit ausreichen lassen: "Persönlichkeitsstörungen sind dauerhafte, auffällige, häufig schon im Kindes- oder Jugendalter auftretende Verhaltensmuster, die zumeist mit deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit verbunden sind."

Setzt der BGH die "psychische Störung" mit Vorsicht ein, werden also wohl zahlreiche Sicherungsverwahrte entlassen werden - in eine Freiheit, in der sie freilich wieder der Staat erwartet. Viele Bundesländer haben inzwischen dichte Netze für diese Klientel geknüpft. "Entlassungen sind für uns nichts Neues", sagt Kutschaty. In NRW heißt es Kurs, in Bayern kürzt man es Heads ab, in Hessen spricht man von Sicherheitsmanagement - die Systeme sind ähnlich: Bewährungshilfe, Justiz, Polizei und Kommunen arbeiten zusammen, in Fallkonferenzen wird ein maßgeschneidertes Konzept zur Wiedereingliederung, aber auch zum notwendigen Schutz der Bevölkerung ausgearbeitet. Die elektronische Aufenthaltskontrolle per Fußfessel, derzeit noch in der Entwicklung, wird ein weiterer Baustein sein. Die flächendeckende Überwachung mit einem Heer von Polizisten - das ist aus den Ministerien zu hören - wird nur in Extremfällen notwendig sein.

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