Abbottabad nach dem Tod Bin Ladens:"Wenn Osama hier gelebt hat, war er eine Fälschung"

Die Bewohner Abbottabads rätseln: Konnte der meistgesuchte Mann der Welt wirklich unerkannt in ihrer Mitte leben? Die Zweifel wachsen.

Tobias Matern, Abbottabad

Es war ein hübscher, schnell erzielter Gewinn. Im Jahr 2004 kaufte Doktor Qazi Mahfooz ul-Haq ein Stück Land. Er war sich sicher: Die Grundstückspreise ziehen an. Er behielt recht. 1,5 Millionen Rupien zahlte der Arzt, neun Monate später bot ihm ein freundlicher Interessent 2,2 Millionen Rupien; etwa 180.000 Euro sind das. Ul-Haq willigte sofort ein. "Damals war ich einfach nur glücklich über das gute Geschäft", wie er heute sagt.

In seine Praxis kann er allerdings nicht viel von dem Profit investiert haben. Der Allgemeinmediziner sitzt in seinem kleinen, dunklen Behandlungszimmer. Nur ein winziges Schild mit seinem Namen hängt über der Tür. Der Raum liegt im Untergeschoss eines Einkaufszentrums von Abbottabad. Wie so häufig ist der Strom ausgefallen.

Auf dem Tisch liegt neben dem Stethoskop eine batteriebetriebene Lampe. Sie strahlt matt. Aber man braucht die Gesichtszüge des Doktors nicht genau zu erkennen, um zu merken: Reden will der Mann mit dem dunklen Bart über "diese Sache" eigentlich nicht mehr. Er ist kurz angebunden.

Aber ul-Haq ist Paschtune. Wenn ein Mann dieses Volksstamms einen Besucher über die Türschwelle gelassen hat, bemüht er sich, gastfreundlich zu sein. "Ich bin keine besondere Person, nur weil ich einmal ein Stück Land erst gekauft und bald wieder verkauft habe", sagt der Arzt, Bewohner von Abbottabad in der dritten Generation.

Das stimmt, einerseits. Aber andererseits war der Käufer ein gewisser Muhammad Arshad, der sich auch Arshad Khan nannte und für den Deal gefälschte Papiere verwendete. Er erwarb innerhalb von zwölf Monaten, zwischen April 2004 und 2005, von drei Verkäufern Land im Stadtteil Bilal Town.

Bin Ladens Kurier als Kunde

Die Parzelle von Doktor ul-Haq war mit Abstand die größte. Auf dem Grund ließ Khan ein weißes, dreistöckiges Haus mit hohen Mauern darum herum bauen. Die Behörden behelligten ihn nicht dabei. Etliche Fenster sind hier nun zersplittert.

Seit Montagnacht ist es die Todesstätte von Osama bin Laden. Khan, der einen Decknamen benutzte und genau wie sein Bruder Tariq im Kugelhagel der Navy Seals starb, war ein Vertrauter, der Kurier des Terroristen.

Über ihn führte die Spur der Amerikaner zum Al-Qaida-Chef. "Es fühlt sich jetzt nicht gut an, so einen Menschen gekannt zu haben", sagt ul-Haq. Aber wie hätte er denn wissen können, mit wem er es da zu tun gehabt habe, fragt der ansonsten ruhig wirkende Arzt nun doch etwas empört. "Schließlich wusste noch nicht einmal der Geheimdienst, wer Khan ist."

Bin Laden: Ehefrau schildert die letzten Momente

Bei dem einen Kontakt zwischen Verkäufer und Käufer blieb es nicht. Auch nach ihrem Geschäft sahen sie sich regelmäßig. Bin Ladens Kurier kam in die Praxis, um sich Pillen gegen Fieber und Halsschmerzen zu holen.

Stets war er allein, freundlich und kurz angebunden, erinnert sich der Arzt. Bevor er den nächsten Patienten hineinbittet, sagt er noch: Medikamente zur Behandlung von Nierenproblemen habe Khan übrigens nie verlangt.

Vielleicht hatte Osama bin Laden die auch gar nicht nötig. Das würde zwar eine lang gehegte, vermeintliche Erkenntnis über seinen Gesundheitszustand widerlegen. Aber nun erzählt nach Aussagen pakistanischer Ermittler Amal al-Sadah, die 29-jährige jemenitische Frau des Terrorchefs, eine andere Version. Ihr Mann sei kein Dialyse-Patient gewesen, berichtet sie nach Angaben der Zeitung Dawn.

Im Gegenteil. Er habe sich bis zu seinem Tod bester Gesundheit erfreut und auf seine eigenen Heilmittel gesetzt: Wassermelonen habe er besonders gut vertragen. In der dramatischen Nacht zu Montag sei sie gerade mit ihrem Mann ins Schlafzimmer gekommen, soll die Witwe berichtet haben.

Kurz nachdem sie das Licht löschten, hörten sie die ersten Schüsse. Die donnernden Geräusche der Helikopter zuvor erwähnte al-Sadah nicht. Ihr Mann habe nach einer Kalaschnikow greifen wollen, als die amerikanischen Kommandos das Zimmer stürmten - das Gewehr aber nicht mehr erreichen können.

Kinder zu Hause unterrichtet

Die nun angeblich so auskunftsfreudige Frau soll nach Erkenntnissen von Ermittlern die Kinder, die auch auf dem Anwesen lebten, zu Hause unterrichtet haben. In dem Komplex seien Schulbücher gefunden worden.

Nichts davon ist gesichert, kein unabhängiger Beobachter durfte bislang ins Haus, um den herum es einen eigenen Gemüsegarten gab, etwas Vieh und Dutzende Kaninchen. Al-Sadah ist bei dem Angriff am Bein verletzt worden. Mit zwei weiteren Frauen Bin Ladens und etwa einem Dutzend Kindern ist sie nun im Gewahrsam der pakistanischen Behörden.

Die vertreten nach wie vor offiziell eine immer unglaubwürdiger werdende Linie: Demnach will den Agenten nicht nur entgangen sein, dass Bin Laden mehr als fünf Jahre in dem Haus mit den vier Gaszählern an der Außenmauer lebte.

Bereits seit 2003 in der Nähe der Hauptstadt?

Seine Frau soll den Ermittlern auch erzählt haben, die Familie sei bereits im Jahr 2003 aus den schwer zugänglichen Stammesgebieten ins Herzland Pakistans gezogen. Die Bin Ladens lebten demnach bis Ende 2005 noch näher an Islamabad als in Abbottabad, bis sie hierher umgezogen sind.

Der Gebäudekomplex ist nun seit Tagen nicht mehr zugänglich. Der Polizist, der etwa 100 Meter von den Mauern entfernt mit zwei Kollegen Wache schiebt, hat tiefe Ringe unter den Augen. Er bemüht sich, freundlich zu bleiben, auch wenn er immer wieder die Journalisten aus aller Welt und die Schaulustigen abweisen muss. "Sicherheitsgründe", sagt er knapp, oder auch: "Anweisung von oben."

Angst vor Selbstmordattentaten

Die pakistanischen Behörden befürchten, dass sich mitten in der Besuchermasse ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengen könnte. Ein Mitarbeiter des Geheimdienstes sagt: "Wir erwarten eine Rachewelle von Al-Qaida-Anhängern." Auch soll das Haus keine Pilgerstätte für Bin-Laden-Anhänger werden. Aber das ist wie bei so vielen Dingen in Abbottabad nur der eine Teil der Wahrheit.

"Das Haus steht sinnbildlich für die pakistanische Armee und den Geheimdienst, es ist das Zeichen einer großen Blamage", sagt ein Insider über den amerikanischen Coup. Die ständigen Medienberichte machten alles nur noch schlimmer. Offenbar soll das Gebäude demnächst abgerissen werden. Jedenfalls erzählen dies Beamte aus dem Sicherheitsapparat.

Für die Einwohner Abbottabads wäre das so etwas wie eine Erlösung. Sie sind den Rummel leid, auch wenn auf der Kakul-Straße, die zu Bin Ladens Haus führt, die Übertragungswagen nicht mehr Stoßstange an Stoßstange aneinandergereiht stehen. "Wir wollen unsere Stadt zurück, es war doch immer so friedlich hier", sagt ein Banker.

Wusste Pakistans Armee doch Bescheid?

Ein buntgeschmückter Hochzeitskonvoi braust durch die Innenstadt, auf dem Markt herrscht dichtes Gedränge. Bin Laden ist nicht das beherrschende Gesprächsthema - auch nicht, wie ihm die Amerikaner genau auf die Spur gekommen sein wollen, aber wer nur die friedliche Stadt beschwört, der blendet auch ein paar Fakten aus.

Zum Beispiel, dass pakistanische Ermittler hier erst kürzlich den Indonesier Umar Patek verhafteten, der als Drahtzieher der Bali-Anschläge im Jahr 2002 gilt. Damals starben 202 Menschen. Noch mehr uniformierte Männer als sonst schon üblich sind in der Garnisonsstadt auf den Straßen unterwegs. Mehr als zwei Dutzend mutmaßlicher Extremisten sollen seit dem Tod Bin Ladens bereits verhaftet worden sein.

Die CIA hatte in der Nähe des Wohnkomplexes vor der Operation ein Haus gemietet. Darin waren offenbar pakistanische Mitarbeiter im Einsatz, heißt es in Abbottabad. Denn Amerikaner wären in der Nachbarschaft sofort aufgefallen, anders als Bin Laden: Den will hier nie jemand zu Gesicht bekommen haben.

Ein Mitarbeiter des Geheimdienstes berichtet zudem, die USA hätten den Unterschlupf des Terroristen schon seit einiger Zeit aus der Luft mit Drohnen überwacht. Er lässt offen, wann die pakistanische Seite davon erfahren hat - schließlich gilt die offizielle Devise: Weder Armee noch Geheimdienst haben die Vorbereitungen zu der Tötung Osama bin Ladens mitbekommen. Und auch nicht, dass amerikanische Helikopter unter dem Radar bis nach Abbottabad geflogen sind.

Die Aktion soll als rein amerikanischer Einsatz gelten, schließlich ist die US-Regierung in dem muslimischen Land verhasst. Bin Laden hingegen verehren hier viele als Märtyrer, der im Kampf für den Islam gestorben sei. "Armee und Geheimdienst möchten jetzt lieber öffentlich für inkompetent gehalten werden, als die Racheakte der Extremisten auszubaden", sagt ein einheimischer Journalist, der sich in den komplexen Sicherheitskreisen des Landes gut auskennt.

"Natürlich wussten sie Bescheid"

Er ist überzeugt: "Natürlich wussten Armee und Geheimdienst Bescheid und haben die Amerikaner die Aktion machen lassen." Allerdings spricht der überaus frostige Ton zwischen den beiden Hauptstädten wiederum gegen die These einer pakistanisch-amerikanischen Kooperation: Washington stellt weiterhin bohrende Fragen - die US-Regierung ist sich sicher, dass pakistanische Agenten Kontakt zu dem Topterroristen pflegten. Sie will unbedingt die Namen wissen.

Wenig ist eindeutig in Abbottabad, fest steht nur: Mit der Wahrheit im Fall Bin Laden ist das so eine Sache hier. Eine offizielle Version der Ereignisse gibt es nicht, das will Premierminister Jusuf Raza Gilani an diesem Montag angeblich ändern. Bislang sickern über die Aktion nur Versatzstücke durch - und die ergeben kein schlüssiges Gesamtbild. Das fängt schon bei banalen Details an. Jeder hat hier seine eigene Realität.

Ein banales Beispiel: Es gibt in der Gegend rund um das Bin-Laden-Haus ein Bügelgeschäft und zahlreiche kleine Lebensmittelläden. Ein Verkäufer erzählt, häufig seien Bewohner aus dem Anwesen gekommen, manchmal begleitet von Kindern. Die Kleinen hätten nie Coca-Cola oder Pepsi bekommen - obwohl sie es wollten.

"Kein Osama, nur ein Drama"

Aber dann ist da auch der Kollege Zulqarnain Haider, 23 Jahre alt. Er trägt schwarze Sandalen zum traditionellen Gewand und verkauft alles von der Kartoffel bis zur Zigarette. Er widerspricht: Die Bewohner des Hauses hätten natürlich auch regelmäßig Coke und Pepsi gekauft. Aber lieber als Limonade wollten die Kinder Karamellbonbons, sagt Haider. Und Schokolade, viel Schokolade.

Man könnte sagen, Haider muss es eigentlich wissen. Das Osama-Haus liegt schließlich nur ein paar Schritte entfernt. Er gibt sich überzeugt: Er hat keine Süßigkeiten an die Kinder eines Top-Terroristen verkauft.

Er bemüht ein bei den Menschen in Pakistan inzwischen weit verbreitetes Wortspiel. Er sagt: "Hier gab es gar keinen Osama, nur ein Drama." Die USA seien nach zehn erfolglosen Jahren in Afghanistan so frustriert gewesen, dass sie nun dringend eine Trophäe gebraucht hätten. "Wenn hier ein Osama gelebt haben soll, dann war er eine Fälschung", so sagt es der junge Mann. Um ihn herum steht Kundschaft. Sie nickt eifrig.

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